Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 6. Tag

Montag, 28. August 2006 - Nachtasyl über die Hühnerleiter

Von Witnica (Vietz) nach Swierkocin (Fichtwerder), 10 Kilometer

Nach dem Frühstück versetzen wir das Rathaus von Witnica (Vietz) in helle Aufregung. Das stattliche Amtsgebäude aus rotem Backstein liegt schräg gegenüber unserer Unterkunft. Es geschieht offenbar nicht häufig, dass Gäste sich nach Sehenswürdigkeiten des Landstrichs erkundigen. Die Dame, die wir mit unserer Frage behelligen, verdrückt sich sofort. Wenig später erscheint eine elegante, hervorragend deutsch sprechende Stadtvertreterin. Sie ermittelt unser Anliegen und  verschwindet ebenfalls - kommt dann aber mit einigen Prospekten zurück, die sie uns - noch immer verwundert - mit Tipps für die Tagesgestaltung in die Hand drückt. Schade, uns fehlt die Zeit, Witnica näher kennenzulernen.

Vom Rathaus hetzen wir zum Bahnhof. Er liegt südlich von Witnica außerhalb der Stadt. Wir sind spät dran. Erika muss zurück nach Hamburg. Ich werde meinen "Pilgerweg" nach Kaliningrad allein fortsetzen. Die Sonne bricht hervor, als wir das braun-violette Stationsgebäude erreichen.  Ich spüre, dass Erika sich wegen meines Vorhabens mit ungewissem Ausgang sorgt. Kurz vor 10 Uhr steigt sie in die Bahn, die sie zurück nach Küstrin bringen wird. Dort hatten wir unser Auto abgestellt. Aus dem Zug wirft sie mir eine letzte Kusshand zu. Der polnische Bahnhofsvorsteher beobachtet uns schmunzelnd. Dann hebt er die Kelle, ein schriller Pfiff, der Zug fährt an und verschwindet langsam am Horizont.

Bahnhof von Witnica (Vietz), gelegen an der Strecke der ehemaligen Ostbahn, die einst Berlin mit Königsberg verband

 

 

 

 

Allein in Polen. Mal schauen, wie ich vorankomme. Heute würde ich gern wieder unter die Bettdecke kriechen. Meine Füße schmerzen. Die Strapaze vom Vortag steckt mir noch in den Knochen. Wie lange halte  ich durch, frage ich mich. Werde ich am Abend eine Unterkunft finden? Ich habe kein konkretes Tagesziel, nirgendwo ein Zimmer reserviert. Es scheint  mir nicht sinnvoll, da ich nicht einschätzen kann, welches Tagespensum ich bewältige. Hinzu kommt: Ich will nicht alles bis ins Detail planen. Ich will spontan über Ziel und Pensum entscheiden.

Und los geht's, zu Fuß durch den zwölf Kilometer breiten Nationalpark Warthemündung. Mindestens bis nach Swierkocin (Fichtwerder) will ich kommen. Dort führt die einzige Brücke zwischen Kostrzyn (Küstrin) und Gorzow Wielkopolski (Landsberg) über die Warthe. Ich will sie nicht überqueren, nur sie betreten und auf den Fluss schauen. Die Warthe fließt durch das Naturschutzgebiet. Im Süden wird der Park vom Sternberger Hochland und im Norden durch die neumärkische Hochfläche begrenzt.

Vor meiner Wanderung habe ich mir in Hamburg ein kleines Aufnahmegerät besorgt, um unterwegs Gedanken und Eindrücke festzuhalten. Während ich am Straßenrand vor mich hin tipple, beschreibe ich meine Impressionen: "Der Weg durch den Ort Bialicek (Neu Balz) will nicht enden. Halbfertige, unverputzte Häuser stehen verloren in der Landschaft. Auf versteppten Weiden käuen schwarz-bunte Kühe wieder. Autos schießen mir wie Pfeile entgegen. Sie rasen. Kein Fahrer nimmt den Fuß vom Gaspedal. Rücksichtslos!"

Auf dem Weg nach Swierkocin (Fichtwerder) zur Brücke über die Warthe

 

 

 

 

Trotz wunder Füße schreite ich gleichmäßig voran. Ein Radfahrer kommt mir entgegen.  Er hat eine Landkarte auf seiner Lenkstange. Der erste Pedalotourist, den ich in Polen treffe. Ein Hinweisschild am Straßenrand zeigt an, dass  Swierkocin (Fichtwerder) drei Kilometer entfernt ist. Es ist halb zwölf. Laufe ich in diesem Tempo weiter, bin ich in einer Stunde an der Warthe. Ich beschließe, mir in Swierkocin eine Unterkunft zu suchen. Es ist dann zwar erst Mittagszeit, aber ich könnte meine geschundenen Füße pflegen und mich erholen. Kurz erwäge ich, bis nach Gorzow Wielkopolski (Landsberg) weiter zu marschieren. Doch ich befürchte, dass ich die Strecke nicht schaffen werde. 

Der Himmel ist bewölkt, ab und zu blinzelt die Sonne hervor. Die Temperatur ist angenehm. Ahornbäume säumen die Straße. Ihrer mächtigen Kronen rauschen im Wind. Der ist inzwischen so heftig, dass sich selbst armdicke Äste biegen. Die Böen fegen mir den Schweiß von der Stirn und aus Hemd und Hose. Mir fällt auf, dass viele alte Gebäude aus gelben, nicht aus roten Backsteinen bestehen. Warum eigentlich? 

Dorfstraße in Pyrzany (Pyrehne)

 

 

 

 

Die Straße nach Swierkocin will nicht enden. "Dzien dobry", grüßt artig in Pyrzany (Pyrehne) ein kleines strohblondes Mädchen, das am Straßenrand hockt. Es sammelt grüngelbe Äpfel, die über den Gartenzaun gefallen sind, in eine knallrote Plastikschüssel. Ein wunderbares Fotomotiv, doch ich scheue mich, meine Kamera zu zücken.

Kurz vor Swierkocin komme ich auf die Landstraße 131, die gen Norden nach Gorzow Wielkopolski und in südlicher Richtung nach Slubice und dann weiter nach Frankfurt an der Oder führt. Ich biege rechts ein, um in  Swierkocien an die Flussquerung zu gelangen.

Brücke über die Warthe bei Swierkocin (Fichtwerder). Der einzige Übergang zwischen Kostrzyn (Küstrin) und Gorzow Wielkopolski (Landsberg an der Warthe)

 

 

 

Die Warthebrücke leuchtet himmelbau. Ich stelle mich in die Mitte der Überführung. Schwere Lkws lassen die Metallkonstruktion erzittern. Als ich auf den Fluss schaue, kommt mir ein Reim aus Kindertagen in den Sinn. Leise summe ich die Melodie: "Und ich steh' auf der Brücke und ich spuck in den Kahn. Ja, da freut sich die Spucke, dass sie Kahn fahren kann." Weit und breit ist kein Kahn zu sehen, und ich spucke nicht von der Brücke.

Mein Blick schweift über die weitläufige Flusslandschaft mit Wiesen, Baumgruppen und Strauchreihen. Staubige Feldwege verlieren sich am Horizont. Ich stapfe durch das kniehohe Gras hinunter ans Ufer, lasse mich  auf einem Betonklotz nieder. Die Stille verzaubert. Nur das Wasser gluckst leise. Die Strömung ist stark. Ab und zu springt ein Fisch aus dunkelgrünem Grund. Über mir kreist ein Fischreiher. Mein Gott, ist das schön! Hier möchte ich bleiben, aber wo?

Wanderweg im Nationalpark Warthemündung: Natur pur.

 

 

 

 

Swierkocin ist ein verschlafenes und auf den ersten Blick liebenswertes Dorf. Ein Hotel ist nicht zu entdecken. Immerhin  gibt es einen Laden. Ich nutze die Gelegenheit und erkundige mich nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Die Frau hinter der Ladentheke murmelt undeutlich so etwas Ähnliches wie: "Agroturystyczne". Als sie bemerkt, dass ich sie nicht verstehe, tritt sie mit mir vor die Ladentür und weist in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Nun verstehe ich: Am nördlichen Ende des Dorfes  soll ein Bauernhof liegen, der Zimmer an Feriengäste vermietet. Also laufe ich wieder zurück.

Das gelbe Schild vor dem Bauernhof mit der Aufschrift "Agroturystyczne" ist nicht zu übersehen. Am Tor grüßt mich bedrohlich wild der Hofhund. Bald erscheint die Bäuerin. Irritiert blickt sie auf den müden Wandersmann mit dem gewaltigen Rucksack. Bevor ich meinen Wunsch vortragen kann, erklärt sie in fließendem Deutsch: "Wir haben kein Zimmer frei". Alle Appartements seien mit polnischen Arbeitern belegt, die für einige Wochen auf einer nahegelegenen Großbaustelle schuften.

Jetzt gerate ich in Not. Es ist zwar erst zwei Uhr mittags. Doch meine Füße mögen mich nur noch unter Schmerzen tragen und schon gar nicht bis ins 20 Kilometer entfernte Gorzow Wielkopolski. Ich bin frustriert. Das fängt ja gut an. 

"Ich kann nicht weiterlaufen, wo kann ich denn bleiben", frage ich Mitleid erheischend die Bäuerin und schildere meine Lage. Ich bemerke, dass sie mit sich ringt. Schließlich lässt sie sich erweichen: "Wir bauen zur Zeit ein Zimmer über dem Stall aus", erklärt sie, "alles ist noch im Rohzustand. Eigentlich soll der Raum erst im nächsten Sommer vermietet werden, aber wenn Sie wollen..." Natürlich will ich! Unbesehen.

Notunterkunft auf dem Bauernhof in Swierkocin (Fichtwerder). Nur zu erreichen über eine "Hühnerleiter"

 

 

 

 

Ich bin erleichtert. Meine Unterkunft erklimme ich über eine metallene Behelfsstiege, eine Art Hühnerleiter, die von außen zum Zimmer ins ausgebaute Dachgeschoss führt. Vor dem Eingang liegen einige Baubretter, abgedeckt mit Linoleumresten. Der Zimmerfußboden besteht aus Holzbohlen, die Wände aus grauen, unverputzten Rigipsplatten. Ein Wasseranschluss ist noch nicht gelegt, immerhin gibt es Strom. Eine Glühbirne baumelt von der Decke, eine Lampe steht neben einer Schlafcouch. Um ins Bad zu gelangen, muss ich die Hühnerleiter hinabsteigen und ins Haupthaus wechseln. Die Bäuerin verlangt 20 Zloty, also 5 Euro, für das provisorische Domizil. Ich bin froh, dass ich mich ausstrecken kann und ein Dach über dem Kopf habe.

Die Sonne scheint, als ich aus meiner Absteige schaue. Gelegenheit, frische Landluft zu genießen. Vom Hof schlendere ich durch ein kleines Wäldchen zu einer Wiese. Auf einer angrenzenden Koppel weiden Pferde. Daneben wächst Gemüse: Kohl, Rote Beete, Salat, Kürbisse, Petersilie, Dill und Kräuter, deren Namen ich nicht kenne. Ich setze mich rittlings auf einen Baumstamm, döse und beschäftige mich mit meinem neuen Fotoapparat. Extra für die Wanderung habe ich mir eine Digitalkamera gekauft. Meine erste.

Sonnenuntergang an der Warthe: Mein Gott, ist das schön!

 

 

 

 

Am Abend, kurz bevor die Tagelöhner auf dem Hof eintreffen, schöpft mir die Bauersfrau einen Teller mit polnischer Borschtsch ab. Die Suppe schmeckt vorzüglich. "Bardzo dobrze". Die Köchin strahlt über mein Kompliment.

Die Sonne senkt sich. Gestärkt durch die Mahlzeit gehe wieder zur Warthe-Brücke. Der Wind hat sich gelegt. Am Horizont ziehen Regenwolken auf. Violett spiegelt sich der Himmel im Fluss. Nun muss die neue Kamera beweisen, was sie leisten kann. Oder liegt die Qualität der Aufnahmen an demjenigen, der auf den Auslöser drückt?

Als ich wieder meine Hühnerleiter erklimme, fallen erste Regentropfen. Ich bin froh über mein "komfortables" Nachtasyl über dem Stall.

 

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Anmerkungen zum Tagebuch bitte an:


Carsten Voigt

Bildarchiv Ostsicht

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