Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg) Tagebuchaufzeichnungen - 4. Tag Montag, den 5. Juni 2006 - Pompeji an der Oder In Küstrin Im Restaurant gegenüber dem Hotel "Dom Turysty" serviert uns ein deutsch sprechender Kellner ein üppiges Frühstück, inklusive Kaffee satt. Unsere Rucksäcke deponieren wir im Hotel und begeben uns auf eine Erkundungstour in die Neustadt. Auf den ersten Blick ist Kostrzyn nad Odra keine Schönheit. Plattenbauten und westliche Discount-Läden bestimmen das Stadtbild. Bahnhof und Wasserturm gehören zu den wenigen Gebäuden, die vom Krieg unversehrt blieben. Nur das Wartheufer lädt zum Verweilen. Küstrin, 1232 erstmals urkundlich erwähnt, erhielt um 1300 durch Markgraf Albrecht III. v. Brandenburg Magdeburger Stadtrecht. 1535 erhob Hans von Küstrin die Stadt zur Residenz und baute sie zur Festung aus. Klug angelegt, bildeten Oder und Warthe einen natürlichen Schutz vor Feinden. Auf der Landseite machten morastige Wiesen den Ort schwer einnehmbar. Küstrin avancierte zur Garnisonsstadt, in der ständig Truppen standen: brandenburgische, preußische, französische, deutsche und sowjetische.
Altstadt von Küstrin: Pompeji an der Oder
Trotz oder gerade wegen der Militärpräsenz litt die Stadt immer wieder unter Kampfhandlungen und Zerstörungen: Hochwasser, Brände, Dreißigjähriger Krieg, Siebenjähriger Krieg, französische Besatzung. Die größte Katastrophe ereilte Küstrin zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Die zweimonatige Schlacht um die Festung machte die Altstadt dem Erdboden gleich. Jahrzehntelang lag das Gelände brach und verwilderte. Erst nach der Wende begannen polnische Arbeiter, Straßen und Gebäudereste freizulegen. Der Rest wucherte weiter zu. Unser Weg durch die geschleifte Altstadt ist bedrückend. Wir laufen über kopfsteingepflasterte Straßen, vorbei an Häusern, von denen nur noch Grundmauern und Fundamentreste sichtbar sind. Diverse Eingänge und Treppen enden im Nichts, gleich einem Pompeji an der Oder. Auf einem Platz ragt ein Fahnenmast aus den Trümmern. An seiner Spitze hängt regungslos die rot-weiße polnische Nationalflagge. Hier könnte sie sein, die Stätte, an dem das wohl unmenschlichste Urteil der preußischen Geschichte vollstreckt wurde: Am 6. November 1730 enthauptete der Henker Leutnant Heinrich Hermann von Katte, 26 Jahre alt und Freund des Kronprinzen Friedrich. Das Schlimmste: Der Vater des späteren Friedrich der Große zwang seinen Sohn, dem grausamen Schauspiel beizuwohnen. Der Grund: Katte wollte dem Kronprinzen zur Flucht verhelfen, um dem strengen Regiment seines Vaters zu entkommen. Doch beide wurden gefasst und in die Festung an der Oder verbracht.
Fahne über den Ruinen der Küstriner Altstadt
Küstrin, „etwas Finster-Unheimliches ist um den Namen her, und in meiner Erinnerung seh ich den Ort, der ihn trägt, unter einem ewigen Novemberhimmel“, notierte 150 Jahre später Theodor Fontane gedenkend dem Geschehen. Ahnte er gleichsam das spätere tragische Ende der Stadt, als er dichtete: „Die Wasser grau und schwer, und die Wolken drüber her und über den Mauern liegt es wie Trauern.“ Festungsmauern und Strom haben heute als Bollwerk ausgedient. Seit 2004 ist Polen Mitglied der Europäischen Union. Die „Neue Oderbrücke“, nur wenige Meter flussabwärts, verbindet Ost mit West, Berlin mit Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg. Vom Festungswall führt ein Pfad hinab zum Oderlauf. Auf einer Buhne balanciere ich auf den Fluss hinaus. Träge zieht der Strom vorüber. Es herrscht eine bedrückende Stille. Nur das Glucksen des Wassers ist vernehmbar.
Oder und Festungsmauer
Pfingsten ist vorüber. Wir holen unsere Rucksäcke aus dem Hotel. Noch heute müssen wir zurück nach Hamburg fahren. Mit dem Gepäck auf dem Rücken laufen wir über Warthe und Oder auf die deutsche Stadtseite. In Küstrin-Kietz steigen wir in den Regionalzug nach Berlin-Lichtenberg. Wieder stehen wir vor der kniffligen Aufgabe, eine Fahrkarte zu lösen. Dieses Mal reagiert der Automat überhaupt nicht. Nach mehreren Versuchen geben wir es auf, ihn mit Münzen zu füttern. Andere Fahrgäste probieren ebenfalls ihr Glück an der "Slotmachine" der Deutschen Bahn. Auch sie erzielen keinen Hauptgewinn. An der Station fragen wir den Zugführer, wie wir "in den Besitz eines gültigen Fahrausweises" gelangen können. Er zuckt resigniert mit den Schultern und erklärt uns: „Der streikt häufiger." Jetzt wird mir klar, weswegen die Nebenstrecken der Deutschen Bahn als unrentabel gelten. Ein Tipp an Herrn Mehdorn: Statt Nebenstrecken einstellen - Fahrkartenautomaten funktionsfähig halten! Vom Bahnhof Köpenick gehen wir zurück ins Hotel. Erschöpft steigen wir in unser Auto. Die ersten 80 Kilometer auf dem Weg nach Königsberg sind geschafft. |