Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 5. Tag

Fortsetzung der Wanderung durch Polen

Sonntag, den 27. August 2006 - Klotz, Klotz, Klotz am Bein, wie lang ist die Chaussee?

Von Kostrzyn (Küstrin) nach Witnica (Vietz), 25 Kilometer

Nach knapp drei Monaten sind wir wieder in Küstrin. Gern würden wir wieder im Hotel „Dom Turysty“ übernachten. Doch es ist kein Zimmer frei. Wir sind enttäuscht. So fahren wir ins knapp 20 Kilometer entfernte Slonsk (Sonnenburg) und übernachten dort.

Ich schlafe unruhig und wache bereits gegen 6.30 Uhr auf. Ist es Nervosität? Meine Wanderung nach Kaliningrad steht wie ein Alp vor mir. Etwa vier Wochen werde ich benötigen, schätze ich. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich die Strecke bewältige. Was unterwegs so alles geschehen kann!? Freunde und selbsternannte Wanderexperten haben mich in den vergangenen Wochen vor vielfältigen Gefahren gewarnt.

Vor dem Aufbruch in Kostrzyn nad Odra (Küstrin)

 

 

 

 

Am ersten Tag meines Fußmarsches durch Polen wird mich Erika begleiten. Nach dem Frühstück in Slonsk fahren wir zurück nach Kostrzyn nad Odra (Küstrin). Hier hatte ich meinen Weg Anfang Juni unterbrochen. Heute will ich meine Wanderung fortsetzen...

Bevor wir losmarschieren, stellen wir unser Auto auf einem bewachten Parkplatz im Ortszentrum ab. Die Küstriner Geschäfte haben sonntags geöffnet. Wir verproviantieren uns beim polnischen „Lidl“. Vor einem Möbelcenter stehen zahlreiche Autos mit deutschen Kennzeichen. Offenbar schätzen die deutschen Grenzbewohner ein besonderes Wochenendvergnügen in Polen: Erst billigen Kraftstoff tanken, dann zu günstigen Preisen die Wohnungseinrichtung vervollständigen und bevor es zurück über die Oder nach Deutschland geht, noch schnell den Wocheneinkauf in einem polnischen Supermarkt erledigen

Am Himmel drohen Regenwolken, als wir gegen 10 Uhr Richtung Warniki (Warnick) loslaufen. Vorbei geht es an verlassenen und verfallenen Gebäuden, dazwischen leuchten hin und wieder knallgrüne und rote Dächer schmucker neuer Einfamilienhäuser. Südlich bietet sich ein Blick in den Nationalpark Warthemündung.

Am Ende eines Waldstückes queren wir die Bahnstrecke Kostrzyn (Küstrin) - Gorzow Wielkopolski (Landsberg) und erreichen bald darauf das Dorf Dabroszyn (Tamsel).

Herrenhaus Tamsel (Dabroszyn): verwilderter Park und bröckelnde Fassaden

 

 

 

 

Nach dem Tamseler Bahnhof laufen wir auf ein ockerfarben gestrichenes stattliches Anwesen zu. Vor dem Bau erstreckt sich ein verwilderter Park mit mächtigen Bäumen. Das Herrenhaus Tamsel ließ Feldmarschall Hans Adam von Schöning im barocken Stil zwischen 1680  und 1690 errichten. Nach der Wende sollte das Gebäude als deutsch-polnisches Musterbeispiel für den Wiederaufbau historischer Ensemble dienen. Es war geplant, die historische Anlage als Verwaltungssitz der deutsch-polnischen Euro-Region Viadrina zu nutzen. Ab Mitte der neunziger Jahre flossen EU-Mittel in die Sanierung.  Doch derzeit herrscht Unklarheit über die Zukunft des historischen Anwesens.

Schon Theodor Fontane schwärmte von diesem märkischen Kleinod. In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg" schreibt er über Tamsel: „In früheren Zeiten hieß es die 'Oase in der Wüste', und noch jetzt hat es Anspruch auf jene rühmende Bezeichnung, wenn auch freilich die ringsumher liegenden, dem üppigsten Wiesewachs gewonnenen Bruchgegenden die Bezeichnung 'Wüste' nicht länger zulässig erscheinen lassen." Dem ist nichts hinzuzufügen.

Zum Tamseler Ensemble gehört die St.-Joseph-Kirche aus dem 17. Jahrhundert. Sie steht unweit des Herrenhauses. Es ist Sonntag. Der Gottesdienst ist gut besucht. Aus Platzmangel lauschen zahlreiche Gläubige vor der Kirche den Worten des Pastors. Neben dem Kirchenportal erinnern drei Gräber der Familie Schwerin-Tamsel an frühere Bewohner.

Gräber der Familie Schwerin-Tamsel neben der Kirche in Dabroszyn (Tamsel)

 

 

 

 

Im Dorf Tamsel unweit des Herrenhauses stoßen wir auf ein großes Backsteingebäude. Es soll früher eine Schmiede gewesen sein. Die Außenwände sind verziert mit kunstvollen Keramikmedaillons. Weiße Tünche blättert vom Gemäuer. Der augenscheinliche Verfall ist bedauerlich.

Keramikmedaillons am Backsteingebäude in Dabroszyn (Tamsel) mit Pferdeköpfen und klassischen Amazonen

 

 

 

 

Wind kommt auf. Wolken fliegen über das Firmament. Kurz vor Krzesnica (Wilkersdorf) überrascht uns ein heftiger Regenschauer. Schnell flüchten wir unter den nächsten Baum. Etwas umständlich legen wir erstmals unsere Schutzkleidung an. Als wir sie endlich zugeknöpft haben, bewährt sich die Ausrüstung.

Wir folgen dem durch einen roten Querbalken gekennzeichneten Fahrradweg.  Am Dorfteich frönen Angler ihrer Sonntagsbeschäftigung. Die Sonne kommt hervor und spiegelt sich auf regennasser Straße. In den Vorgärten leuchten Vogelbeeren in kräftigem Rot.

Der einzige Laden im Dorf hat sonntags geschlossen. Auf dem kleinen Rastplatz vor dem Geschäft ist ein Sonnenschirm aufgespannt. Er hat Tisch und Bänke vor der Nässe bewahrt. Wir setzen uns unter den leuchtend gelben Regenschutz und vertilgen unsere Brote.

Auf einem Feldweg, eingefasst von Bäumen und Sträuchern, wandern wir nach Kamin Wielki (Groß Cammin). Schon von weitem erkennen wir den schlanken Turm der Backsteinkirche. Über Feldwege kommen wir nach Moscice (Blumberg). Zierde des kleinen Dorfes ist eine imposante Feldsteinkirche mit einem massiven, weiß gestrichenen Kirchturm.  Nur wenige Menschen sind zu sehen.

Auf dem Weg nach Kamin Wielki (Groß Cammin)

 

 

 

 

Immer wieder schaue ich auf meinen Schrittzähler, den ich mir extra für meine Wanderung gekauft habe. Ich habe ihn an den Hosengürtel geklemmt, doch ich traue meiner neuen Errungenschaft nicht über den Weg. Wir sind doch schon viel weiter gelaufen, denke ich, als ich die Schrittzahl ablese. Dann bemerke ich: Das verdammte Ding zählt längst nicht jeden Schritt. Es reagiert nur auf heftige Erschütterungen, also nur dann, wenn ich meinen Fuß kräftig aufsetze. Mir bleibt nichts anderes übrig: Wie bisher schätze ich die zurückgelegte Strecke anhand von Wanderkarten und Ortsschildern. Ärgerlich, die Investition war unnötig.

Einige Kilometer vor Witnica (Vietz) gelangen wir auf die Landstraße 132, die wir in Küstrin verlassen hatten. Wir folgen jetzt wieder der ehemaligen Reichsstraße 1. Das Laufen auf den holprigen Feldwegen hat ein Ende. Allerdings brausen jetzt wieder Autos an uns vorbei. Zum Glück verläuft neben der Straße ein frisch geteerter, geradezu luxuriöser Fuß- und Radweg. Trotzdem kosten die letzten Kilometer viel Kraft.

Wir haben etwa 20 Kilometer zurückgelegt, sind aber noch nicht am Ziel. War die Strecke für den ersten Tag vielleicht doch zu anspruchsvoll? Aber wo hätten wir unterkommen sollen? Der Weg nach Witnica zieht sich hin, eine Unterkunft ist nicht in Sicht.

Aus unerfindlichen Gründen gehen mir plötzlich despektierliche Reime aus Kindertagen durch den Kopf. Im Rhythmus meiner Schritte murmele ich vor mich hin: „Klotz, Klotz, Klotz am Bein, Klavier vorm Bauch, wie lang ist die Chaussee! Rechts 'ne Pappel, links 'ne Pappel, in der Mitt' ein Pferdeappel.“ Was soll das? Wie komme ich auf solch einen Unsinn? Meine Achillesferse fängt an zu schmerzen, und ich spüre, dass sich unter meinem Fußballen eine Blase bildet, die sich Tritt auf Tritt stärker bemerkbar macht.

 

Hauptstraße und Kirche in Witnica (Vietz)

 

 

 

 

Endlich erreichen wir Witnica. Auf einer Parkbank gönnen wir uns eine kleine Pause. Schuhe aus, Füße massieren, Blasen pflegen. Im Ort gegenüber der polnischen Aldi-Konkurrenz "Biedronka"  entdecken wir das Hotel „Lord“. Ein feiner Name und festlich gekleidete Leute stehen am Eingang. Ein Doppelzimmer ist frei. Als wir an der Rezeption stehen, ertönt Musik. Und dann bricht es los. Hoch die Tassen! Ist es eine Hochzeit oder ein Geburtstag? Die eleganten Leute werden fröhlich und ausgelassen. Eine Musikgruppe spielt polnische Stimmungslieder, und die Gesellschaft stimmt lauthals ein. Die Texte kann ich nicht verstehen. Das ist nicht erforderlich. Einige Melodien sind bekannt: „Rosamunde, lala lalala lala…“

Müde stapfen wir die Stufen zu unserem Zimmer hinauf, hängen die feuchte Kleidung über den (leider) kalten Heizkörper. Aber immerhin: Es gibt ein warmes Duschbad. Böses ahnend verarzte ich meine wunden Füße. Na dann, gute Nacht!

 

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Anmerkungen zum Tagebuch bitte an:


Carsten Voigt

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