Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 17. Tag

Freitag, 8. September 2006  -  Ich gehöre dazu

Von Debrzno (Preußisch Friedland) nach Czluchow (Schlochau), 20 Kilometer

Ich stehe um sieben Uhr auf und gehe nach einem kräftigen Kaffee um acht Uhr los. Ein Frühstück wurde nicht angeboten. Zum Abschied schenkt mir die Hausherrin eine alte Münze aus dem ehemaligen Preußisch Friedland, die aber wohl keinen Sammlerwert hat.

Nachts hat es stark geregnet. Auch heute morgen ist das Wetter sauschlecht und kalt. Bevor ich losgehe, zieht ein Gewitter mit heftigen Regengüssen übers Haus. Erstmals streife ich mein Plastikcape über meine Windjacke. Ich kann keine Rücksicht auf die Wetterlage nehmen. Die Zeit drängt, ich muss mich auf den Weg machen, um mein Tagesziel Czluchow (Schlochau) zu erreichen.

Die Landschaft unter dem wolkenverhangenen Himmel zeigt sich in Braun- und Grüntönen. Pappeln, Birken, Ahornbäume, Buchen und Kastanien stehen am Weg. Links und rechts der Straße liegen abgeerntete Felder.

Ortsschild von Mysligoszcz(Marienfelde)

Mir fehlt mein Frühstück. Nach kurzer Zeit bin ich ausgehungert. Bis zum nächsten Laden sind noch einige Kilometer zu laufen. In einem Dorf, mit dem für mich unaussprechlichen Namen Mysligoszcz (früher Marienfelde, wie ich später recherchiere), entdecke ich nach vier Kilometern zu meiner Erleichterung ein kleines Geschäft in einem Gebäude, das ausschaut wie ein beiger Schuhkarton mit Luftlöchern.

Ich trete ein. Hinter dem Verkaufstresen steht ein junger Mann. Umständlich mache ich ihm deutlich, dass ich Hunger und Durst habe. Als er bemerkt, dass ich Deutscher bin, strahlt er mich an und antwortet fast akzentfrei: „Ich heiße Frantisek. Ich mache Ihnen belegte Brötchen“. Er nimmt eine Semmel, schneidet sie auf und greift in den Wursttresen. „Setzen Sie sich an den Tisch, da auf meinen Platz. Wollen Sie einen Kaffee?“

Kaffee und belegte Brötchen sind für mich ein Festessen. Kunden, die Frantiseks Geschäft betreten, begrüßt er per Handschlag. Der Laden scheint auch Informations-Börse für den neuesten Dorfklatsch zu sein. Seit ich an seinem Tisch sitze, kommen die Dorfbewohner auch auf mich zu und reichen mir die Hand. Jetzt gehöre ich dazu.

Tante-Emma-Laden in Mysligoszcz(Marienfelde)

Ich bin überwältigt von der Freundlichkeit der Menschen, die ich in dem kleinen Tante-Emma-Laden erleben darf. Leider kann ich sie nicht verstehen. Dabei ist das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland auf diplomatischer Ebene seit einigen Wochen ziemlich angekratzt. Die linksliberale "tageszeitung" ("taz") hatte Ende Juni einen despektierlichen Artikel mit dem Titel "Polens neue Kartoffel" über die Kaczinsky-Brüder veröffentlicht. Einige polnische Politiker fühlten sich durch den satirischen Beitrag verletzt. Als Reaktion verglich das polnische Außenministerium die "taz" mit dem nationalsozialistischen Hetzblatt "Stürmer". Aber wen schert in der polnischen Provinz schon so ein Disput?

„Woher sprechen Sie so gut deutsch?“, will ich von Frantisek wissen. „Ich habe fünf Jahre auf der Insel Juist als Hilfskoch gearbeitet. Von dem gesparten Geld habe ich mir dieses Geschäft gekauft und eingerichtet“, erzählt er stolz. In Deutschland habe er 1200 Euro im Monat verdient, sein Dorfladen werfe monatlich gerade einmal spärliche 125 Euro ab.

Seit einiger Zeit hat Frantisek eine weitere Geldquelle. Er ist stolzer Besitzer von 24 Bienenvölkern. Die verursachen zwar viel Arbeit, sagt er, aber durch den Verkauf des Honigs käme er fast auf das Einkommen, das er in Deutschland erzielte. Jetzt ist er nicht mehr gezwungen, alle zwei bis drei Monate nach Deutschland zum Arbeiten zu fahren, um über die Runden zu kommen. Denn zu Hause ist es für ihn am schönsten.

Ladenbesitzer in Mysligoszcz(Marienfelde)

Frantisek erzählt, dass viele junge Polen zum Geldverdienen ins Ausland gehen. „Die meisten arbeiten jedoch nicht mehr in Deutschland, sondern in England oder Irland“, weiß er. Bevor ich weitermarschiere, kaufe ich noch ein paar Getränke für den weiteren Weg. 5,93 Zloty verlangt der junge Mann für alles. Ich gebe ihm 10 Zloty.

Das Gespräch mit Frantisek, die Freundlichkeit der Dorfbewohner, der heiße Kaffee und ein gefüllter Magen geben mir Kraft, mich wieder den Unbilden der Witterung auszusetzen. Das Wetter hat sich nicht gebessert. Immer wieder zwingen mich Sturm und Regen, in graubetonierten Bushaltestellen Schutz zu suchen, die entlang der Fernstraße 188 stehen.

Gegen 13 Uhr erreiche ich Czluchow (Schlochau). Meine Warschauer Kollegin Maria G. hatte mir empfohlen, mich bei einem „sehr netten Herren aus der Promotionsabteilung des Rathauses, Herrn Adam Bondarenko“, zu melden. Er sei begeistert von meinen Wanderplänen und würde mir seine Hilfe anbieten, wenn es um den Besuch von Sehenswürdigkeiten und eine Unterkunft geht.

Turm der Ordensburg in Czluchow (Schlochau)

Da stehe ich nun in dem Büro von Adam Bondarenko. Triefend, mit nassen Füssen. Etwas außer Atem stelle ich meinen mächtigen Rucksack in eine Ecke seines Zimmers und schäle mich aus meinem Plastikcape.

Herr Bondarenko hört sich den inzwischen schweißdampfenden Wanderer geduldig an. So recht scheint er sich nicht mehr an sein selbstloses Angebot zu erinnern. Er schaut mich skeptisch an. Als ich ausgeredet habe, verlässt er plötzlich sein Büro und kommt kurz darauf mit einem kleinen Karton in der Hand wieder zurück. Aus der Schachtel zieht er ein kleinen Porzellan-Becher hervor, auf dem „Miasto Czluchow“ steht. "Der ist für Sie", sagt er. Ich bin gerührt und nehme etwas verlegen das Geschenk an.

Nachdem Herr Bondarenko sein berechtigtes Misstrauen abgelegt hat, fragt er mich, ob ich einverstanden sei, einigen Journalisten von meiner Wanderung zu berichten. Ich winke ab. Nein, nein, nach einer Pressekonferenz ist mir nicht zumute. Ich bin ziemlich "durch den Wind" und durchnässt.

Dann hat der freundliche Promotionsmann eine andere Idee. An diesem Wochenende gäbe es in Czluchow eine Tagung zur Kultur der Region. Zu Gast sei auch eine deutsche Delegation. Geleitet werde die Abordnung von Herrn Werner Panknin. Er ist der Vorsitzendes des Heimatkreises Schlochau mit Sitz in Northeim, einer Partnerstadt von Czluchow. Den Herrn müsse ich unbedingt kennen lernen.

Partner: Powiat Czluchow und Landkreis Northeim

„Haben Sie schon eine Unterkunft?“, fragt Bondarenko mich unvermittelt. „Wenn Sie einverstanden sind, besorge ich Ihnen eine. Ich fahre sie dort vorbei.“ Im Auto erzählt mir Bondarenko, dass seine guten Deutschkenntnisse mit seiner Abstammung zusammenhängen. Seine Großmutter ist deutschstämmig, sein Vater belorussischer Herkunft. Ich erzähle ihm, dass mein Vater Hamburger ist und meine Mutter in Tilsit in Ostpreußen geboren wurde.

Freundlich wie Herr Bondarenko ist, fährt er mich zum Hotel "Przy Zamku“. Das Hotel ist eine große alte Villa unmittelbar neben der Ordensburg Schlochau. Von meinem Zimmer trete ich auf das Vordach des Gebäudes, das zu einer kleinen Terrasse ausgebaut worden ist.Für einen Augeblick genieße ich die Sonne, die kurz zwischen den Wolken hindurchscheint.

„Herr Panknin ist ebenfalls hier untergekommen“, sagt er, und kann’s kaum erwarten, mich ihm persönlich vorzustellen. Herrn Panknin treffe ich am Tagungsort, der unmittelbar neben der Pension liegt. Wir verabreden uns zu einem Gespräch am Abend. Morgen soll er einen Vortrag zur Geschichte Schlochaus in der Zeit von 1920 bis 1945 halten.

Hotel „Przy Zamku“in Czluchow (Schlochau)

Die Familie, die die Pension führt, ist außerordentlich hilfsbereit. Auf meine Frage nach einem nahegelegenen Internetcafé, bieten sie mir an, ihren Netz-Zugang an der Rezeption zu nutzen.

Der Hausherr interessiert sich besonders für mein Vorhaben, von Berlin nach Kaliningrad zu wandern. Er kramt eine Landkarte hervor. Gemeinsam beugen wir uns daüber und versuchen alternative Strecken zur Fernstraße 22, auf die ich in Czluchow wieder gestoßen bin, ausfindig zu machen. Doch alle Varianten zur Hauptverkehrsstraße führen fort vom Ziel und würden großen Zeitverlust bedeuten. Immerhin, beruhigt mich der freundliche Hotelier, gibt es an der Strecke nach Chojnice (Konitz) einen durch einen weißen Streifen am Rand der Fahrbahn getrennten Fußweg, auf dem ich mich relativ sicher bewegen kann.

Es ist spät geworden. Herr Panknin konferiert immer noch - so nehme ich an - mit seinen polnischen Gastgebern. Unser Gespräch findet nicht mehr statt.

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Carsten Voigt

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