Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg) Tagebuchaufzeichnungen - 12. Tag Sonntag, 3. September 2006 - Bin ich eine Schnecke? Von Czlopa (Schloppe) nach Walcz (Deutsch Krone) – 32 Kilometer zu Fuß – neuer Rekord! In der Morgendämmerung treibt Regen die Hochzeitsgäste auseinander. Frühstück gibt es um neun Uhr, leider ohne Kaffee, nur Tee, dazu aber polnische Würstchen. Gegen halb zehn Uhr begebe ich mich auf den Weg nach Walcz (Deutsch Krone). Es ist schwül, als ich vom See durch den Wald bei Czlopa laufe und wieder auf die Fernstraße 22 treffe. Nach kurzer Zeit beginne ich zu schwitzen und laufe erstmals im T-Shirt weiter. Kirche in Czlopa (Schloppe)
Ich gehe wie in den vergangenen Tagen am Straßenrand. Im Rennzirkus der Formel 1 fährt neuerdings ein junger Pole mit. Offensichtlich eifern seine Landsleute ihrem neuen Idol, Robert Kubica, nach. Immer wieder blicke ich ängstlich hinter mich. Gefährlich schwanken die Fahrzeuge auf dem geflickten Asphalt von Bodenwelle zu Bodenwelle. Manche Autos drohen abzuheben, wenn die Privat-Piloten mit gefühlten 180 Stundenkilometern an mir vorbeirasen, obwohl die Höchstgeschwindigkeit aufgrund der Buckelpiste auf 80 Stundenkilometer begrenzt ist. Kurz vor dem Abheben: Wie Formel-1-Rennfahrer Robert Kubica rasen Privat-Piloten mit gefühlten 180 Stundenkilometern über die Fernstraße 22
Es kostet Energie, immer auf der Hut sein zu müssen. Wann kann ich entspannen? Wo bleibt mein meditatives Wandererlebnis? Zügig setze ich Schritt vor Schritt. Ich fühle mich wie bei einem Marathonlauf. Bald bin ich vollkommen durchnässt. Ist es Angstschweiß? Bis Walcz sind es noch dreißig Kilometer, lese ich auf einem Hinweisschild. Ein Schock - wie soll ich das nur schaffen? Der Straßenverlauf ist eintönig. Durch eine hügelige Waldlandschaft führt die Strecke über Kilometer geradeaus. Gegen zwölf Uhr habe ich gerade einmal ein Drittel zurückgelegt und Rusinowo (Ruschendorf) erreicht. Prusinowko (Neu Preußendorf): Zum Schutz vor dem Regen setze ich mich unter eine Pergola. Kein Mensch ist zu sehen
Bei Prusinowko (Neu Preußendorf) habe ich mir eine weitere Fußblase gelaufen. Die Autos karriolen weiterhin haarscharf an mir vorbei, trotzdem weiche ich nicht vom Chaussee-Rand. Meinen Essensvorrat habe ich aufgegessen. Die einzige Gaststätte im Ort hat geschlossen. Frustriert setze ich mich zum Schutz vor dem einsetzenden Regen unter die Pergola der Wirtschaft. Kein Mensch ist auf der Straße zu sehen. Es sind noch sechs bis acht Kilometer bis nach Straczno (Stranz), den nächsten Ort, in dem ich hoffe, etwas essen zu können. Das Wetter meint es nicht gut mit mir. Es regnet jetzt ununterbrochen. Aber ich will vorankommen. Nicht der Weg ist mein Ziel. Mein Ziel habe ich ständig vor Augen, eben Kaliningrad, das ehemalige Königsberg. Katholische Kirche in Straczno (Stranz)
Kurz vor Walcz gibt es einem kleinen Imbiss an einer Tankstelle. Dort lege ich eine Pause ein und stärke mich mit einer kräftigen polnischen Gemüsesuppe (wie immer hervorragend) und einem Becher Kaffee. Es regnet weiterhin in Strömen, als ich die Füllstation verlasse. Wie ein frisch betankter Diesel nehme ich ordnungsgemäß den Weg über die breite Tankstellenausfahrt. Ich bin kurz davor, meine Lippen zu einem Motorengeräusch zusammen zu pressen („brhmm, brhmm). Als mich ein klappriger Fiat-Polski am dem Ende der Ausfahrt überholt, habe ich das Gefühl, eine Schnecke zu sein. Nicht einmal eine halbe Pferdestärke bringe ich auf die Straße. Ein Slalomlauf zwischen Wasserlachen am Ortseingang von Walcz (Deutsch Krone)
In Bodenwellen und Spurrillen staut sich das Wasser. Die restlichen Kilometer bis Walcz werden zum Slalomlauf zwischen Pfützen, ohne Aussicht dem Nass zu entkommen. Das Sprühwasser von den Autoreifen spritzt mir an die Hosenbeine. Würde ich ausweichen, landete ich unwillkürlich im kniehohen, nassen Gras am Straßenrand. Vor Walcz laufe ich an einem großen Sportkomplex vorbei. Hier werden Polens Ruder-Recken auf die Olympischen Spiele vorbereitet. Leichtsinnig lasse ich das erstbeste Hotel am Wegesrand links liegen. Ich will noch heute das Stadtzentrum erreichen, damit ich morgen früh nicht den gesamten Ort durchqueren muss. Am Stadteingang fotografiere ich ein Ehrenmal für russische und polnische Soldaten. Davor klärt eine Hinweistafel die Besucher über "Die Befestigungen der Pommernstellungen in Walcz" auf. Als ich mich der Stadtmitte nähere, schüttet es erneut wie aus Kübeln. Das Wasser fließt aus den Zufahrtsstraßen und läuft durch meine neuen polnischen Leichtlaufsandalen in den Rinnstein. Die vorbeifahrenden Fahrzeuge werfen das Wasser auf den Gehweg zurück. Ich bin durch und durch nass. Und wieder steigt in mir der Gedanke auf: Mein Gott, warum tue ich mir das an? Am Ortseingang von Walcz (Deutsch Krone): Ein Ehrenmal für russische und polnische Gefallene des Zweiten Weltkriegs
Endlich erreiche ich im Stadtzentrum das Hotel „Bialy Domek“. Doch meine Enttäuschung ist groß. "Wir sind vollständig belegt", erklärt die wasserstoffblonde Dame an der Rezeption. Ein Flop, denke ich – und das bei dem Wetter. Wahrhaftig, ich sehe aus wie der sprichwörtlich "begossene Pudel". Wasser trieft an mir herunter auf den dicken Hotel-Teppich. Na klar, so einen durchnässten Wanderer darf nicht in die gute Stube lassen. Ein Sonnenbank-gebräunter, muskelbepackter Kerl sitzt auf einem beige gestreiften Sofa neben dem Empfangs-Tresen. Offensichtlich ein Sicherheitsmensch. Als ich erzähle, dass ich zu Fuß quer durch Polen laufe, um nach Kaliningrad zu kommen, schaut er mich fassungslos an. Für einen Moment wirkt der Wachmann verunsichert. Er weiß nicht, ob er mich bewundern oder für verrückt erklären soll. Die Blondine an der Rezeption kann ich immerhin überzeugen, telefonisch für mich in Walcz nach einem freien Hotelzimmer zu fragen. Nach erfolgreicher Recherche bestellt sie mir ein Taxi, das mich zu einem Motel namens „Za Grosik“ bringen soll. Es liegt an der Ausfallstraße nach Szeczin (Stettin) - eigentlich ganz und gar nicht meine Marschrichtung. Die Übernachtung kostet 120 Zloty (einschließlich Frühstück), unverhältnismäßig teuer, finde ich. Aber was bleibt mir anderes übrig? Ich brauche für die Nacht ein Dach über dem Kopf. Das Motel „Za Grosik“ in Walcz (Deutsch Krone) an der Ausfallstraße nach Szczecin (Stettin)
Mein „Za Grosik“-Zimmer ist plüschig eingerichtet. Auf einem filzigen Teppich stehen schwere Polstersessel, auf dem Beistelltisch daneben thront ein mächtiger Fernsehapparat. An der Hotel-Bar bestelle ich ein großes Bier und verschwinde damit auf dem Zimmer. Langsam löst sich meine Anspannung. Meine nasses Outfit, das ich im Zimmer verteilt habe, will allerdings nicht trocknen. Die Heizungsanlage ist Anfang September noch nicht in Betrieb. Deutsche Fernsehsender sind im "Za Grosik" nicht zu empfangen. Ein polnisches Programm bringt ein Musikfestival aus Zoppot. Offenbar eine Aufzeichnung. Denn die Freilichtveranstaltung an der Ostsee findet bei herrlichem Wetter statt. Pop-Veteranen aus den 70er und 80er Jahren rufen Beifallsstürme bei den Zuschauern hervor. Die alternden West-Stars schmeicheln dem polnischen Publikum, Demis Roussos: „Zoppot is a flower“, Karel Gott: „Zoppot is a magical place.“ Drupi: “The greatest Pole is Lech Walesa.“ Nach einem zweiten Bier liebe ich auch alles Polnische und schlafe ein.
Anmerkungen zum Tagebuch bitte an:
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