Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg) Tagebuchaufzeichnungen - 9. Tag Donnerstag, 31. August 2006 - So weit die Füße tragen Von Gorzow Wielkopolski (Landsberg an der Warthe) nach Strzelce Krajenskie (Friedeberg), 25 Kilometer Hotel "Meszko", Landsberg an der Warthe. Um halb sieben stehe ich auf. Das Wetter ist katastrophal. In der Nacht hat es gestürmt und geregnet. Der Wind pfiff durch die Fensterritzen. Ich habe schlecht geschlafen und habe Kopfschmerzen. Mein Unterarm ist weiterhin geschwollen. Der Himmel ist grau, als ich aus dem Fenster schaue. Mir graut vor dem Weg. Doch ich muss weiter. Nach dem Frühstück stiefele ich los. Um zur Ausfallstraße nach Walcz (Deutsch Krone) zu gelangen, muss ich eine kleine Anhöhe überwinden. Nach wenigen Schritten werde ich kurzatmig, meine Füße schmerzen, die Tragriemen des Rucksacks schnüren mir das Blut ab, so dass mein linker Arm taub wird. Die Last auf meinem Rücken ist trotz meiner Abspeckaktion nicht geringer geworden. Ich lege den Rucksack ab, um zu ruhen. Ich hätte nicht vermutet, dass mir der Weg so schwer fällt. Ich bin doch sportlich, oder? Allerdings habe ich das Gefühl, nicht ganz gesund zu sein. Eigentlich sollte ich einen Arzt konsultieren. Aber das würde nicht nur Geld, sondern auch Zeit kosten. Also gehe ich weiter. Der Respekt vor der Strecke wächst von Tag zu Tag. Werde ich es schaffen? Ich muss es schaffen!
Kraftwerk bei Gorzow Wielkopolski (Landsberg an der Warthe): Zwei brodelnde Töpfe kurz vor dem Überkochen
Am Stadtrand von Gorzow Wielkopolski (Landsberg an der Warthe) hat sich Großindustrie angesiedelt. Kilometerlang laufe ich neben eintönigen Werkszäunen entlang. In der Ferne köcheln der Chemiefaserhersteller Stilon und die Textilfabrik Silwana. Dampf steigt aus gewaltigen Kraftwerksmeilern wie aus brodelnden Kochtöpfen. An der Stadtgrenze endet der Fußweg. Ich muss jetzt durch hohes nasses Gras stapfen. So kann es nicht weiter gehen. Es scheint mir unmöglich, mein Tagespensum zu schaffen. Erstmals spiele ich mit dem Gedanken, in einen Bus zu steigen. Auf dem Fahrplan an einer Bushaltestelle lese ich, dass der Regionalbus nach Strzelce Krajenskie (Friedeberg) - mein angestrebtes Etappenziel - nur alle zwei Stunden vorbei kommt. Ich überwinde meine Schmerzen und laufe weiter so weit die Füße tragen. Doch weit wird das wohl nicht mehr sein, gestehe ich mir insgeheim ein. Meine Blasen am Fuß drücken. Sie werden mich wohl noch tagelang triezen. Ich lese entnervt "Strzelce Krajenskie 21 Kilometer". Nun geht es neben der Landstraße über einen holprigen Treckerpfad weiter. Jeder Schritt fällt mir schwer. Der Wind wird immer heftiger. Ich setze meine Schirmmütze auf, um meine Brille vor den Regentropfen zu schützen. Damit der Wind die Mütze nicht vom Kopf fegt, stülpe ich darüber die Kapuze meiner Windjacke.
LKW-Verkehr von Berlin nach Danzig: Ich stolpere entlang eines Traktorpfads zwischen Fernstraße und Feldern
Meine Wanderschuhe sind eine Katastrophe. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber mein "Geiz ist geil"-Kauf geht mir nicht aus dem Kopf. Ich beschließe, im nächsten Ort neue Schuhe zu kaufen. Während einer kurzen Pause schaue ich mit Grausen auf meine Füße. Ein Zehnagel hat sich gelb und grün verfärbt. Immerhin läuft der linke Fuß einfach so nebenher, als gingen ihn die Beschwerden seines rechten Pendants nichts an. In einem Container, er wurde einige hundert Meter zuvor als Bar angekündigt, trinke ich einen Kaffee. Vielleicht hebt er meine Stimmung? Die Fernfahrer am Nebentisch beobachten mich argwöhnisch. Ich kann sie verstehen. Ein Kerl aus Deutschland mit einem Rucksack auf dem Buckel, ohne Auto, was will der hier? Hat er nichts Besseres zu tun, als bei miserablem Wetter an der Straße zu laufen? Der Wirt, ein langmähniger Hüne, den mutmaßlich die polnische 68er-Bewegung am Straßenrand vergessen hat, kommt langsam auf mich zugeschlurft. Zwei Zloty, verlangt er für die Plörre. Immerhin ist sie heiß. Ich marschiere weiter an der Fernstraße 22, der ehemaligen Reichstraße 1. Immer stärker komme ich ins Grübeln: Ist es nicht sinnvoll, an der nächsten Haltestelle in den Überlandbus zu steigen? Es kann doch nicht sein, dass ich mehr Kraft aufwenden muss, meine Schmerzen zu überwinden, als ich benötige, um auf dem Weg voran zu kommen. So habe ich mir meine Wanderung nicht vorgestellt! Wo bleibt das Glücksgefühl von Freiheit und Unabhängigkeit - auch wenn der Genuss nur für ein paar Tage ist? Ich bin einsam! Meine "sozialen Kontakte" beschränkten sich auf das Bezahlen der Hotelrechnung und das Bestellen eines Kaffees bei einem grimmingen polnischen Alt68er. "Dziekuje, do widzenia". Ach ja, da war noch etwas: Bei der Dame an der Rezeption hatte ich mich nach einem Wanderweg erkundigt, der mich nach Strzelce Krajenskie (Friedeberg) führen würde. Nachdem sie mich endlich verstanden hatte, nahm sie mir alle Illusionen. Es gäbe keinen Wanderweg. Da ahnte ich, was auf mich zukommt.
Kirche von Rozanki (Rosinki): Nach etwa der Hälfte des geplanten Tagespensums verschnaufe ich auf der Feldsteinmauer
Bei Rozanki (Rosinki) halte ich die Schmerzen nicht mehr aus. Die Blase am Fuß hat die Form eines Silikonimplantats angenommen. Unter dem Zehnagel bildet sich eine gelbe Flüssigkeit. Was mache ich nur? Ich komme zu der Einsicht, dass es unsinnig ist, sich die Füße vollends zu ruinieren. Schließlich habe ich nur ein paar Wochen Zeit für mein Vorhaben. Was bringt's, wenn ich die Zeit auf einer Pflegestation für geschundene Füße verplempere - sei es in Polen oder zu Hause auf der Couch. Ich werde schwach. Für den Rest des Weges steige ich in einen Überlandbus und fahre für ein paar Zloty auf schnurgerader Strecke erleichtert bis nach Strzelce Krajenskie (Friedeberg). Beim Blick aus dem Fenster bestätigt sich die Auskunft der Dame an der Hotelrezeption: Neben der Straße verläuft kein Fußweg. Es wäre eine Schinderei gewesen, weiter durchs nasse Gras zu stapfen und hätte wohlmöglich das Ende meiner Wanderung bedeutet. Kurz nach Mittag steige ich in Strzelce aus dem Bus. Der Busbahnhof liegt vor den Toren der Stadt auf einem stillgelegten Fabrikgelände. In einem Supermarkt tätige ich einen Frustkauf: Neben Wurst und Käse landen auch drei Dosen Bier im Einkaufswagen.
Stadttor in Strzelce Krajenskie (Friedeberg): Das Tor Wschodnia (Driesener oder auch Mühlentor) ist ein massiver Backsteinbau auf einem Feldsteinfundament
Um die Altstadt zu erreichen, muss ich zunächst einen Kreisverkehr überwinden. Für Autos mag diese Straßenregelung von Vorteil sein. Als Fußgänger empfinde ich das im Kreis laufen hinderlich. Dass die neuzeitliche Vorfahrtsregelung auch in der polnischen Provinz anzutreffen ist, zeigt aber, dass der Nachbar im Osten verkehrstechnisch in der EU angekommen ist. Wie vor Hunderten von Jahren führt die Hauptstraße noch heute durch das mittelalterlich geprägte Friedeberg. Unmengen rostiger Container klappern über die alte Ost-West-Magistrale von Berlin nach Danzig und in umgekehrte Richtung. Auch das Hotel "Staropolski", in dem ich mich für 65 Zloty einmiete, liegt an dieser Straße. Aus meinem Zimmer kann ich den Verkehr beobachten. Keine gute Voraussetzung für eine geruhsame Nachtruhe. Ich entledige mich meines Gepäcks und klammer Kleidung. Erleichtert aber erschöpft steige unter die Dusche.
Gotische Backsteinkirche St. Marien in Strzelce Krajenskie (Friedeberg) aus den 1290er Jahren: Mit Unterstützung ehemaliger Einwohner Friedebergs wieder aufgebaut
Nach kurzer Erholung begebe ich mich auf eine kleine Erkundungstour. Bei meiner Ankunft hatte ich an der Hotelrezeption einen Stadtführer erstanden. Auf Englisch steht dort: "The towns most interesting monuments are defintely the huge defense walls. They were built between 1272 and 1290." Und wirklich, die Stadtmauer ist beeindruckend. An einigen Stellen ist sie bis zu acht Meter hoch und einen Meter dick. Noch heute existieren 36 von 38 Beobachtungstürmen. Geschmälert wird der optische Eindruck jedoch durch hässliche Gartenzäune, die bis an die historische Feldsteinmauer heranragen. Seit dem Mittelalter umgibt die Stadtmauer kreisförmig den Ort. Noch heute ist sie durch Wehrtore gesichert. Sehenswert sind der Gefängnisturm aus dem 14. Jahrhundert und das Tor Wschodnia (Driesener oder auch Mühlentor), ein massiver Backsteinbau auf einem Feldsteinfundament. 80 Prozent der Gebäude wurden bei den Kämpfen am Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört. Dominiert wird das Stadtbild durch die gotische Backsteinkirche St. Marien aus den 1290er Jahren. Sie wurde 1973 mit Unterstützung ehemaliger Friedeberger Einwohner wieder aufgebaut. Die Stadt muss einst sehr schön gewesen sein. Ihre mittelalterliche Struktur ist weiterhin deutlich. Warum präsentiert Strzelce seine historische Bausubstanz nicht stärker, frage ich mich. Der Ort könnte ein touristisches Schmuckstück werden. Stadtmauer von Strzelce Krajenskie (Friedeberg): Der Ort könnte ein touristisches Schmuckstück werden
Im Hotel bereite ich mir ein rustikales Abendbrot. Mein Schweizer Taschenmesser, das ich extra für meine Wanderung gekauft habe, leistet gute Dienste: Es schneidet Brot, Wurst und Käse und - es kann auch Bierflaschen öffnen. Nach kurzer Zeit habe ich die nötige Bettschwere.
Anmerkungen zum Tagebuch bitte an:
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