Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg) Tagebuchaufzeichnungen - 8. Tag Mittwoch, 30. August 2006 - Nur nicht "schlapp machen" Gorzow Wielkopolski (Landsberg an der Warthe) Der Frühstücks-Saal im Hotel "Mieszko" versprüht den Charme einer Bahnhofshalle. Lautstark macht sich eine Busladung deutscher Touristen über das Buffet her. Die wenigen Geschäftsleute, die sich an den Tischen verlieren, löffeln leise schlürfend ihre Frühstücks-Cerealien. Sie heben kaum ihren Blick vom Teller, konzentrieren sich ganz auf ihre „Business“-Termine. Nur einen hungrigen Wandersmann gibt es hier, mich.
Die Eintrachtskirche, heute mit dem Namen Stanislaw-Kostka-Kirche, überragt die Gebäude von Gorzow Wielkopolski (Landsberg an der Warthe)
Bevor ich weitergehe, befreie ich mich von überflüssigem Ballast und sende einige Utensilien nach Hause. Dabei ist mir klar: Das wird nur klappen, wenn es mir gelingt, den gelben Karton der „Poczta Polska“ zu einem Postpaket zu falten. Doch schnell stellt sich heraus: Das ist eine Aufgabe, die einen erfolgreichen Besuch eines Bastelkurs an einer polnischen Volkshochschule erfordert. Nach einigen Fehlversuchen ist die Pappe dann doch in eine rechteckige Form gequetscht. Als erstes fliegen Prospekte, Broschüren und Kartenmaterial aus den Regionen, die ich durchwandert habe, in den Karton. Besonders imponierend ist die Laufstrecke ja noch nicht. Entsprechend gering die Entlastung. Auch mein Kompass ist überflüssig. Wann laufe ich schon mal querfeldein? Dazu stopfe ich verschmutzte Wäsche: Strümpfe, Unterhemden und Hosen. Neue Unterwäsche kann ich günstig auf einem Markt erstehen, überlege ich. Doch ganz wohl ist mir nicht bei meiner Aktion. Ist es nicht dreist, schmutzige Wäsche auf dem Postweg nach Hause zu schicken?
Die Staromiejski-Brücke über die Warthe in Gorzow Wielkopolski (Landsberg): Vorbereitung zum 750-jährigen Stadtjubiläum im Sommer 2007
Mit Paketsendungen verhält es sich wie mit dem Kauf einer Fahrkarte. Zahlreiche Fragen müssen dazu geklärt werden. Wie verschließe ich vorschriftsmäßig den Karton? Wohin lege ich den Packzettel? Worauf schreibe ich die Anschrift? Und ganz wichtig: Wie hoch ist das Porto? Wer hilft mir nur weiter? Ich habe wieder Glück. Eine hilfsbereite Schalterbeamtin löst alle Probleme für mich. Fachmännisch verschließt sie das Paket mit speziellem Klebestreifen. Hätte ich nie fertig gebracht! Dann hilft sie mir, den Begleitzettel auszufüllen. Anschließend klebt sie das korrekte Porto auf den Pappkarton. Und: Taktak, taktak, zum Schluss kriegen die Briefmarken noch kräftige Hiebe mit dem Stempel verpasst. Nach der Prozedur bin ich erleichtert: um knapp zwei Kilo Gewicht, aber auch um 46 Zloty, etwa 11 Euro. Das Wetter ist scheußlich. Immer wieder beginnt es zu regnen. Der Wind ist so stark und kalt, dass ich gezwungen bin, mir die Kapuze meiner Windjacke über die Mütze zu ziehen. Ich bin froh, dass ich noch am Tag meiner Abreise diesen Wetterschutz gekauft habe. Qualität zahlt sich aus, denke ich, und hadere im selben Moment mit mir wieder wegen des Kaufs meiner Billig-Treter. Die haben meine Füße gleich zu Beginn meiner Wanderung zum Pflegefall gemacht. Unweit des Hotels finde ich einen deutschen Lebensmittel-Discounter. Lidl, Plus und Netto sind seit mehr als zehn Jahren in Polen vertreten, habe ich gelesen. Sie verfügen bereits über jeweils rund 100 Filialen. Aldi dagegen hat die kommerzielle Eroberung des Ostens verschlafen. Dafür zeigen die Franzosen mit ihren Handelsketten Intermarche und Carrefour Präsenz. Marktführer ist immer noch der polnische Discounter Biedronka, der allerdings einem Portugiesen gehört. Wer weiß, wie lange die Dominanz anhält? Der EU-Osten ist ein lukrativer Absatzmarkt für westeuropäische Handelsketten.
Fachwerkspeicher an der Warthe nahe der Staromiejski-Brücke: Heute ein Museum
Bei Lidl bevorrate ich mich für die nächsten zwei Tage: Saft, Joghurt, Äpfel und etwas Schokolade gegen den plötzlichen Heißhunger. Auch mein Wäsche-Depot fülle ich wieder auf. Bei einem Straßenhändler erwerbe ich neue Unterkleidung: drei Unterhosen, zwei Unterhemden und fünf paar Socken für 31 Zloty (rund 8 Euro). Gegen Mittag erreiche ich die Leiterin des Gorzower Fremdenverkehrsamtes Malgorzata P. an ihrem Arbeitsplatz. "Für die Feiern zum 750-jährigen Stadtjubiläum bin ich nicht zuständig", erklärt sie mir. Dafür gäbe es ein eigens eingerichtetes Büro. Sie wisse aber, "dass die Planungen für das Jubiläumsjahr 2007 noch sehr vage sind". Die zentrale Feier finde vom 1. bis zum 3. Juli 2007 statt. Im kommenden Jahr soll auf jeden Fall die Renovierung der Altstadt-Brücke über die Warthe, die Most Staromiejski, abgeschlossen sein. Die neue Querung über den Fluss werde dann mit einem Festumzug eröffnet.
Grunwaldzki-Platz in Gorzow Wielkopolski (Landsberg an der Warthe): Denkmal mit Friedensglocke
"Kommen Sie doch am nächsten Wochenende zur Einweihung der neuen Friedensglocke am Grunwaldzki-Platz", schlägt mir Malgorzata P. am Ende des Gesprächs vor. Ich muss sie enttäuschen und erkläre ihr, dass ich weiterwandern muss. Weitere Tage darf ich nicht ungenutzt verstreichen lassen. In meinem Kopf hat sich die Strecke nach Kaliningrad wie eine unüberwindliche Hürde aufgebaut. Ich habe nicht nur Blasen an den Füßen, es wird sich auch ein Zehnagel ablösen. Mein rechter Ellenbogen schmerzt und der Unterarm ist aus mir unerfindlichen Gründen dick angeschwollen. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich die Strapazen bewältige. Bevor ich loslief hatte ich zu Hause Kollegen und Freunden euphorisch von meinem Projekt berichtet. Nun kann unmöglich "schlapp machen". Ich muss weiterlaufen. Wenn ich erst einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt habe, so hoffe ich, werde ich gelassener. Auf die Einweihungszeremonie für die neue Friedensglocke kann ich nicht warten!
Gorzower Touristen-Information in einem ausrangierten Straßenbahnwagon: Freundliche junge Damen schauen aus dem Fenster
Trotz des Regenwetters schlendere ich am Nachmittag wieder durch die Stadt. Im Zentrum steht einen ausrangierter Straßenbahnwapgon. Am Dach des Waggons steht www.gorzow.pl. Seitlich lese ich: Landsberg 1899 - Gorzow Wlkp. 2004. Die Jahreszahlen sind mir ein Rätsel. Der Waggon ist ein Stützpunkt der Gorzower Touristen-Information. Zwei freundliche junge Damen schauen aus einem der Fenster. Ich kaufe einen Stadtplan und kann sie überreden, sich gemeinsam ablichten zu lassen. Noch einmal gehe ich zur Altstadtbrücke an die Warthe und schaue den Bauarbeitern zu. Sie bohren und hämmern unermüdlich trotz eisigen Windes. Auf der linken Flussseite steht ein riesiger grauer Fachwerkspeicher. Das über 200 Jahre alte Gebäude wurde anstelle einer Redoute erbaut, die einst den Zugang zur Brücke sicherte. Heute beherbergt der Speicher ein Museum. Am Grunwaldzki-Platz schaue ich mir das neue Denkmal an, das zum 750-jährigen Stadtjubiläum erschaffen wurde. Auf ein Relief aus Granit sind Soldaten dargestellt. Ein Kind an der Hand seiner Mutter überreicht den Kämpfern Blumen. Die Friedensglocke, die am kommenden Wochenende erstmals ertönen soll, ist noch durch Plastikplanen verhüllt. Zum Abend leere ich im Internet-Cafe am Bahnhof meinen elektronischen Briefkasten. Es gibt keine relevante Post. Es ist dunkel, als ich auf die Straße trete. Ich bin hungrig. Am Alten Markt hinter der Marienkirche finde ich das türkische Schnell-Restaurant "Anadolu". Ich bestelle eine Hühnersuppe. Sie schmeckt so vorzüglich, dass ich sogleich einen zweiten Teller verzehre. Mein Fazit: Polnische Hühnersuppen sind gut, aber polnisch-türkische Hühnersuppen sind am besten! .
Anmerkungen zum Tagebuch bitte an:
|