Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 10. Tag

Freitag, 1. September 2006  - Das "La Mirage", eine Luftspiegelung?

Von Strzelce Krajenskie (Friedeberg) nach Dobiegniew (Woldenberg), 20 Kilometer

Straßenlärm dringt am Morgen durchs Fenster. Ein Lkw nach dem anderen rumpelt in Strzelce Krajenskie (Friedeberg) über das alte Kopfsteinpflaster an meinem Hotelzimmer vorbei. Der Verkehr auf der Fernstraße 22 reißt nicht ab.

Es ist sieben Uhr. Heute möchte ich flott vorankommen. Dazu muss aber mein Rucksack unbedingt an Gewicht verlieren. Nach dem Frühstück sende ich einen Teil meiner Kleidung zurück in die Heimat. Die Beamtin auf der Post ist nicht sehr hilfsbereit. Leider verschweigt sie mir, dass mein Paket mit einem Gewicht von knapp über zwei Kilo in eine neue Gebührenklasse aufgestiegen ist.  Bevor ich mich versehe, knallt sie einen Express-Stempel auf den Karton, um der Transport meiner Wäsche zu beschleunigen. Dafür verlangt 96 Zloty. Wahnsinn, fast 25 Euro für die Überführung verschwitzter Klamotten aus der polnischen Provinz nach Hamburg. In einem bin ich mir sicher: Es ist das letzte Paket, das ich nach Hause schicke.

Aus einem Geldautomaten neben der Post ziehe ich 400 Zloty. Bargeld zu bekommen, ist in Polen kein Problem. Automaten gibt es in jedem Ort. Nur, was kosten die Zloty? Hoffentlich erlebe ich nicht später, bei der Kontrolle meines Kontos, eine böse Überraschung.

Meine Füße bereiten mir weiterhin Probleme. Mir wird klar: Da hilft nur neues Schuhwerk. Also mache ich mich auf die Suche nach einem Schuhgeschäft. Gleich hinter meinem Hotel, in einer Nebengasse, finde ich einen Laden kaum größer als mein Wohnzimmer. Entsprechend beschränkt ist auch die Auswahl. Ich bin unsicher, mit welchen Schuhen ich meinen Weg fortsetzen soll. Mit sogenannten Trekking-Boots habe ich schlechte Erfahrungen gemacht. Derbe Wanderschuhe bereiten mir schon beim Anpassen Schmerzen. Geeignet wäre ein leichter Schuh. Doch in dem Schuhlädchen finde ich nichts Passendes.

Der Fangturm in der mittelalterlichen Stadtmauer von Strzelce Krajenskie (Friedeberg): Geschäfte, wenig größer als ein Wohnzimmer, mit beschränkter Auswahl

 

 

 

 

Es regnet, als ich das Hotel verlasse. Es ist spät, fast halb zwölf, und ich habe noch keinen Meter zurückgelegt. Ich hadere mit mir. Welche Richtung soll ich einschlagen. Nehme ich den Kampf an der Hauptstraße wieder auf? Versuche ich weiterhin, mein Etappenziel zu Fuß zu erreichen? Oder laufe ich zurück zur Haltestelle und lasse mich bequem im Bus nach Dobiegniew (Woldenberg) schaukeln? Der Regen nimmt zu. Zwangsläufig entscheide ich mich, zum Busbahnhof zu gehen.

An der  Haltestelle sind weder Fahrgäste noch Bus zu sehen. Mühsam entziffere ich den durchnässten Fahrplan. Ich bin sauer, als ich herausfinde, dass die nächste Fuhre nach Dobiegniew erst in zwei Stunden abgehen wird. Nein, solange sitze ich hier auf keinen Fall tatenlos herum. Ich werde weiter versuchen, per pedes gen Osten voranzukommen.

Missmutig laufe ich zurück zum Hotel, und ist es Zufall oder Fügung?: Plötzlich stehe ich vor einem weiteren Schuhladen. Nie hätte ich gedacht, dass es in Strzelce Krajenskie eine Ansammlung von immerhin zwei Schuhgeschäften gibt!

Ich überlege nicht lange und trete ein. Der Laden ist modern eingerichtet, wirkt allerdings etwa unaufgeräumt. Schuhkartons liegen verstreut auf dem Boden. Eine Mutter mit einem quengelndem Lockenkopf ist auf der Suche nach ein paar Stiefelchen für den Kleinen. Ich schaue unentschlossen umher. Unvermittelt fällt mein Blick auf ein Paar Sandaletten. Ich nehme mir den linken Schuh, schlüpfte hinein, schließe beide Klettverschluss-Riemen. Nach kurzem Zehenspiel  stelle ich zu meinem Erstaunen fest: Ich spüre keinen Schmerz. Ich schiebe den rechten Fuß in die andere Sandalette. Er bleibt ebenfalls schmerzfrei. Ich frohlocke: Ich habe die ideale Fußbekleidung gefunden! Die Sandaletten sind luftig, die Füße schwitzen nicht, und meine Zehen stoßen an keine Schuhspitze. Dazu überzeugt mich der Preis: 64 Zloty, also etwa 15 Euro. An Ort und Stelle schlüpfe ich in meine neuen Gesundheitslatschen. Die Folterinstrumente verstaue ich im Rucksack. Vorsichtshalber schleppe ich sie erst Mal mit. Man weiß ja nie!

Neue Wanderschuhe für 64 Zloty: Die Sandaletten sind luftig, die Füße schwitzen nicht, und die Zehen stoßen nicht an die Schuhspitze

 

 

 

 

Zur Mittagzeit verlasse ich Strzelce Krajenskie. Auch hier endet der Fußweg an der Stadtgrenze. Ich werde aufs Neue zum Freiwild für die Autofahrer. Es ist lebensgefährlich an der Straße. Jeder vernünftige Mensch würde von meinem Tun abraten. Die Fahrzeuge rasen auf mich, den schutzlosen Wandersmann, zu und weichen erst in letzter Sekunde aus. Immer wieder zwingen sie mich, ins nasse Gras am Straßenrand zu springen. Nach wenigen Metern sind meine neuen Billig-Sandaletten klitschnass, ebenso Strümpfe und Füße. Immerhin, die Latschen überstehen die Taufe und fallen nicht auseinander.

18 Kilometer bis Dobiegniew (Woldenberg), Autos auf der Fernstraße 22, ehemalige Reichstraße 1: Sie machen nur selten einen Bogen um den hilflosen Wandersmann

 

 

 

 

Bis zum Dorf Lichen (Lichtenow) halte ich durch. Dann gebe ich völlig durchnässt mit schmerzenden Gliedern wieder entnervt auf. Gegen zwei Uhr steige ich den Überlandbus. Gemächlich rolle ich bis an mein Tagesziel Dobiegniew (Woldenberg).

Der Bus hält am Bahnhofsgebäude. Mit mir steigen zwei junge Männer aus. Offensichtlich Einheimische. Sie streben wie ich ins Ortszentrum. Ich frage sie nach einer Unterkunftsmöglichkeit und habe Glück. Auf Englisch erklären sie mir den Weg zum Hotel "La Mirage", dem angeblich einzigen Übernachtungsangebot in Dobiegniew. "Nach der Hauptstraße die zweite Straße links", rufen sie mir hinterher. Ich bin gespannt auf ein Hotel mit französischem Namen in einer polnischen Kleinstadt.

Zunächst laufe ich an der Straße, in der sich das Hotel befinden soll, vorbei. Beim nächsten Anlauf schaue ich genauer hin. Zweite Straße nach der Hauptstraße links, aha. Dann, ich traue meinen Augen nicht, das "La Mirage", ist es eine Luftspiegelung oder Wirklichkeit? Das französische Kleinod ist ein grau verputzter Schuhkarton mit "Coca-Cola"-Werbung auf dem Dach. Im Garten steht ein roter Sonnenschirm von "Warka", der "Oberklasse der polnischen Biere". Ratlos erklimme ich die Stufen zur Eingangstür. Sie ist verschlossen. Ich suche nach einer Klingel. Im gleichen Moment biegt ein klappriger VW-Bus in die Gasse und hält vor dem "La Mirage". Zwei Männer steigen aus. Es sind Vater und Sohn, die sich als die "Hoteliers" zu erkennen geben. Sohnemann führt die Verhandlungen, weil er des Englischen mächtig ist: "40 Zloty a night, no breakfast." Okay, sage ich. Anschließend entladen  sie ihren VW-Bus. Brause, Cola, Bierkästen und Hochprozentiges wandern in den Hotelkeller. Ich bin froh, eine Bleibe gefunden zu haben.

Hotel "La Mirage" in Dobigniew (Woldenberg): Ein grau verputzter Schuhkarton mit "Coca-Cola"-Werbung auf dem Dach

 

 

 

 

Bevor sie wieder verschwinden, händigt mir der Hotelvater die Schlüssel aus. Meine Unterkunft ist eine Zelle von etwa zwei mal drei Metern. Dusche und Toilette erreiche ich über einen kleinen Flur. Für eine Nacht bin ich Herr über einen Schuhkarton mit Bett,  Schrank, Tisch, aber ohne Stuhl.

Nach dem Duschen gehe ich in die Stadt. Mein erster Eindruck: Der Ort hat schon bessere Zeiten gesehen und leidet noch heute unter den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges. Immerhin kann Dobiegniew auf eine 750-jährige Geschichte zurückblicken. Die erste schriftliche Quelle stammt aus dem Jahre 1250, als Herzog Przemysl I. von Großpolen die Ansiedlung „Dubegneve“ dem  Zisterzienserorden schenkte. Bald darauf kam das Gebiet in brandenburgischen Besitz. Unter dem Namen Woldenberg (seit 1368) gehörte der Ort von 1402 bis 1454 zum Herrschaftsbereich des Deutschen Ritterordens. Mehrfach wurde die Stadt durch Brände zerstört. Sogar "Hexen" suchten den Ort heim. 1581 war Woldenberg Schauplatz eines Prozesses, an dessen Ende fünf Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannten. Ab 1796 wertete eine Poststation den Ort auf, die später über die Reichsstraße 1 die Verbindung zwischen Berlin und Königsberg hielt.

Die alte Verbindungsstraße führt heute als polnische Fernstraße 22 weiterhin mitten durch den Ort. Bahnschranken unterbrechen den Verkehr, als ich entlang der Straße schlendere. Freizeitradler im feschen gelbschwarzen Outfit warten artig zwischen den Pkws. Freundlich blicken sie in meine Kamera und stellen sich für ein Foto in Positur, als sie bemerken, dass ich sie im Visier habe. Es sind die ersten Radsportler, die ich sehe, die das Wagnis auf sich genommen haben, die Autorennstrecke als Radweg zu nutzen. Doch wer weiß, wie lange sie durchhalten. Vielleicht flüchten sie kurz hinter dem Bahnübergang auf Nebenwege. Ich würde es ihnen raten.

Radtouristen in Positur auf der Fernstraße 22 in Dobiegniew: Sie haben das Wagnis auf sich genommen, die Autorennstrecke als Fahrradweg zu nutzen

 

 

 

 

In einer kleinen Einkaufszeile entdecke ich eine Apotheke. Die junge Apothekerin, die ausschaut wie ein Erstsemester, spricht hervorragend Deutsch. Sie versteht meinen Wunsch sofort. Zur Sicherheit zeige ich ihr meinen immer noch geschwollenen Arm. Sie rät mir, ein kühlendes Gel aufzutragen. Als ich am Abend die Tube öffne, schaue ich etwas genauer hin. Made in Italy. Na ja, auch nicht schlecht, Hauptsache es wirkt. 

Im Norden Dobiegniews liegt der "Große See", der Jezioro Wielgie. Grundstücke mit gediegenen Einfamilienhäusern säumen das Ufer. Hinter den Gärten gehe ich über den morastigen Boden durchs Schilf bis ans Wasser. Dunkle Wolken spiegeln sich auf der Wasseroberfläche. Blesshühner und Haubentaucher wiegen sich auf den kleinen Wellen. Mit meiner Kamera fixiere ich Wasserläufer, die wundersam, ohne zu versinken, über das Wasser rennen. 

Der Jezioro Wielgie in Dobiegniew (Woldenberg): Dunkle Wolken spiegeln sich auf der Wasseroberfläche

 

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Östlich des Stadtzentrums befindet sich die einstmals evangelische Marienkirche. Heute heißt sie Jozefa und wird von katholischen Gläubigen besucht. Die dreischiffige Stadtkirche befindet sich in gutem Zustand. Doch triste, dreigeschossige  Wohnblocks keilen den gotischen Backsteinbau ein und lassen das Gotteshaus wie einen Fremdkörper erscheinen. Am Platz neben der Kirche ragt eine martialische Plastik aus dem Boden. Das Schwert aus Beton und Stahl zeigt drohend gen Himmel. Der Sinn der gewaltigen Handwaffe erschließt sich mir nicht.

Die Marienkirche, heute sw. Jozefa in Dobiegniew: Ein monumentale Betonschwert überragt das Gotteshaus und zeigt drohend gen Himmel

 

 

 

 

 

 

Eine junge Mutter, fast selbst noch ein Kind, schiebt ihren Kinderwagen an dem Riesenschwert vorbei. Genüsslich zieht sie an einer Zigarette. In einem kleinen Supermarkt abseits der Anlage kaufe ich Käse, Brötchen, Orangen-Saft, Wasser und Joghurt. Gegen sieben Uhr kehre ich ins "La Mirage" zurück und schließe mich in meiner Zelle ein. Beim Abendbrot denke ich daran, dass es morgen früh keinen Kaffee geben wird. So ist es mit der Genusssucht...

Gegen acht Uhr abends liege ich auf meiner Pritsche. Ich komme ins Grübeln. Warum kann ich meine Wanderung immer noch nicht genießen? Was hindert mich daran? Sind es die Fußschmerzen, ist es das Laufen an der vermaledeiten Chaussee oder sind es meine Zweifel, die Route in der vorgegebenen Zeit bewältigen zu können? Nach den ersten Wandertagen muss ich mir ehrlich eingestehen: Ich habe einen grandiosen Fehlstart hingelegt! Gleich zu Beginn meiner Tour bildete sich eine Mordsblase unter einem Fuß, jetzt löst sich auch noch ein Zehnagel. Und immer wieder verspüre ich leichte Galoppsprünge meines zentralen Pumporgans. Oder ist das alles nur Einbildung? Ich bin eben ein Wanderamateur. Meine trüben Gedanken überwältigt der Schlaf.

Gegen 23 Uhr wache ich wieder auf. Dumpfe Rhythmen dringen aus dem Hotelkeller. Lachen, Rufen, Schimpfen. Die Stimmen werden immer lauter. Schnell wird mir klar: Das "La Mirage" ist nicht nur eine ziemlich miese Schlafstätte, nein, es beherbergt auch die Dobiegniewer Dorfdisko. Ich ziehe meine Bettdecke über beide Ohren. Schlafe wieder ein, wache wieder auf, schlafe wieder ein. Gegen zwei Uhr morgens ist die Stimmung unter mir auf ihrem Höhepunkt. Grölen, Schreien, Pöbeln auf Polnisch. Ich verstehe kein Wort. Und gerade das empfinde ich als bedrohlich. Sind es Streitigkeiten oder ist es jugendlicher Übermut?

Der Krach aus dem Keller verlagert sich auf die Straße. Unter meinem Fenster zersplittern Flaschen und Gläser.  Mir wird immer mulmiger. Wenn die Streithähne wüssten, dass in dem kleinen Kabuff über ihnen ein deutscher Wandersmann zu schlafen versucht. Der westliche Nachbar soll ja nicht bei allen Polen gleichermaßen beliebt sein. Ich verhalte mich mucksmäuschenstill und lausche. Irgendwann sinkt der Geräuschpegel, die Stimmen entfernen sich. Beruhigt schlafe ich wieder ein.

 

9. Tag → 11. Tag

 

Anmerkungen zum Tagebuch bitte an:


Carsten Voigt

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