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Tagebuchaufzeichnungen - 24. Tag

Freitag, 15. September 2006  - "Verkapseltes" aus Danzig-Langfuhr

Auszeit in Danzig: Auf den Spuren von Günter Grass

Jolanta ist eine Frau, die weiß, was sie will. Heute steht Günter Grass auf dem Plan. Sie möchte mir unbedingt zeigen, wo der Schriftsteller seine Jugend verbrachte. Das Besondere an ihrer Führung: Der Stadtteil Danzig-Langfuhr, in dem Grass aufwuchs, ist seit Kindertagen auch Jolantas Heimat.

Nach dem Krieg hatte es das polnische Mädchen aus ihrer Geburtsstadt Wilna nach Danzig verschlagen. Grass und die deutschen Danziger waren in den Westen geflüchtet. In der jungen Bundesrepublik setzte der Schriftsteller Jolantas neuem Zuhause in seinen Romanen "Die Blechtrommel", "Katz und Maus" und "Hundejahre" bald ein literarisches Denkmal.

Jolanta las alles über das vergangene Danzig, interessierte sich für die Geschehnisse von einst und begab sich auf Spurensuche in ihrem Stadtteil, der nun Gdansk-Wrzeszcz hieß. Sie fand die alten Häuser und Straßen, erforschte Winkel und Plätze. Sie hatte sogar dieselbe Grundschule wie Günter Grass besucht.

Ich stehe gegen acht Uhr auf und genieße das üppige Frühstück. Dann bringe ich noch schnell ein Paket mit Stadt-Plänen und Prospekten zur Post, die sich auf der Wanderung angesammelt hatten und jetzt den Rucksack noch schwerer machen. Dann sitzen wir in der Bahn. Es sind nur vier Stationen von Zabianka nach Langfuhr. Vom wolkenlosen Himmel strahlt die September-Sonne.

Pestalozzi-Schule in Danzig

"Komm', ich zeige Dir, wo Grass zur Schule ging", sagt Jolanta und eilt voran. Bald stehen wir vor einem roten Backsteinbau. Befänden wir uns in Hamburg, würde ich sagenein, typischer Fritz-Schumacher-Bau. Doch wir sind in Danzig und schauen auf das Gebäude der Pestalozzi-Schule, die Grundschule, die der kleine Günter in den dreißiger Jahren und Jolanta nach dem Krieg besuchten.

Jolanta verschwindet im Schulgebäude. Aufgeregt kommt sie wieder heraus und ruft: "Stell' Dir vor, es gibt nicht einen Hinweis auf den prominenten Schüler. Da habe ich denen gesagt: 'Es wird höchste Zeit, dass sie wenigstens ein Schild anbringen!'" Resolut zieht sie mich mit sich.

Danzig-Langfuhr

Graue Mietskasernen dominieren Langfuhr. Rot-weiß-gestreifte Warnkegel weisen auf notdürftig geflickte Schlaglöcher hin. Hier trieben sich die Vorlagen von Grass' literarischen Figuren herum. Die kleinbürgerliche Atmosphäre, die der Schriftsteller in seiner "Danziger Trilogie" eingefangen hat, ist noch heute zu spüren. Und dann, Ehre wem Ehre gebührt, treffen wir auf den Hauptdarsteller seiner Geschichten: Grass' kleinwüchsigen Held Oskar Matzerath. In Bronze gegossen sitzt er mit seiner Blechtrommel auf einer Bank. 2003 ließen die Danziger Stadtväter für den Ehrenbürger Günter Grass das Denkmal aufstellen. Ich setze mich neben das Oskarchen.

Neben dem Oskarchen

Zum Grass'schen Wohnhaus im Labesweg 13, heute ul. Lelewela, sind es nur wenige Schritte. In einer engen Mietwohnung verbrachte der am 16. Oktober 1927 geborene Schriftsteller seine Kindheit. Hier führte Grass' Vater einen kleinen Kolonialwarenladen. Das Geschäft existiert nicht mehr. Nur ein Emaille-Schild über der Wohnung erinnert an den Jungen aus dem Parterre.

Jolanta drückt wieder und wieder auf die Türklingel. Sie möchte mir zu gern zeigen, wo das kleine Günterchen am Ofen saß und schmökerte. Doch niemand öffnet. Aber so leicht gibt Jolanta nicht auf. Energisch trommelt sie auf dem Klingelbrett herum. Und endlich wird aufgemacht. Eine rundliche Babka (polnisch für Großmutter) im hellblauen Pullover, rot-weiß beschürzt, lässt uns ins Haus. Sie führt uns durch das Treppenhaus, vorbei am geschlossenen Eingang zur Grass'schen Wohnung und schließt uns die Tür zum Hinterhof auf.

Spätsommerliche Wärme schlägt uns entgegen. Im Quarrée der Mietskasernen fangen sich Sonnenstrahlen und Küchengerüche. Schrumpelige Blätter eines Ahornbaumes künden vom Herbst. Die Fenster des dreistöckigen Grass-Wohnhauses sind erneuert. Bei der Dachrenovierung reichte es gerade zur Teerpappe. Eine Frau in Unterwäsche stützt ihre Ellenbogen auf den Fenstersims und keift lautstark zur Nachbarin hinunter.

Hinterhof-Atmosphäre

Jolanta ist in ihrem Element. Nach kurzem Palaver mit der gutmütigen Babka hält sie triumphierend einen Türschlüssel in der Hand. Nein, er gehört nicht zur Grass'schen Wohnung. Es ist der Schlüssel zum Dachboden des Mietshauses. Wir steigen die Stufen hinauf. Als Jolanta die Tür aufschiebt, öffnet sich uns der Weg in die Vergangenheit.

Mich schaudert's, als unter unseren Schritten die Bodenbretter knarren. Hier hockte vor etwa 80 Jahren der kleine Günter. In seiner Autobiographie "Beim Häuten der Zwiebel" schreibt Grass: "Als ich eines undatierten Tages - war ich schon vierzehn oder noch zwölf Jahre alt? - auf dem Dachboden des Mietshauses Labesweg, in dem wir als eine von neunzehn Mietparteien wohnten, meinen geheimen Leseplatz, den durchgesessenen Sessel unterhalb der aufklappbaren Luke aufsuchte...".

Auf dem Dachboden

Sonnenstrahlen fallen durch die Dachluke und spenden spärlich Licht. Es scheint sich nichts verändert zu haben. Nur der durchgesessene Sessel ist verschwunden. Wäscheleinen, auf denen weiße Stores trocknen, hängen unter dem Dachfirst. Ich schaue durch das Kippfenster in den Hinterhof. Grass erinnert sich in seinem Buch: "Immer wieder zog es mich in dieses Versteck. Die aufklappbare Luke gab den Blick frei über Hinterhöfe, Kastanienbäume, das Teerpappendach der Bonbonfabrik, auf Kleinstgärten, halbverdeckte Schuppen, Teppichklopfstangen, Kaninchenställe, bis hin zu den Häusern der Luisen-, Hertha-, Marienstraße, die das geräumige Geviert umgrenzten. Ich aber sah weiter." Es ist noch genau dieselbe Ansicht durch die Luke auf Danzig-Langfuhr.

Zeitgleich, im September 2006, in den Tagen, die ich in Danzig verlebte, erschien die Grass'sche Autobiografie. Sie erregte nicht nur in der deutschen, sondern auch in der polnischen Öffentlichkeit großes Aufsehen. In dem Buch bekannte sich Grass erstmals, für seine Kritiker viel zu spät, zu seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS.

Blick durch die Dachluke

Beim Lesen wird aber auch etwas anderes deutlich: Grass litt als Jugendlicher unter den einfachen Verhältnissen, aus denen er stammte. In seinen Erinnerungen spricht er von einer "Falle der Herkunft" und von einem "Zweizimmerloch", in dem die Familie lebte. So stieß er sich besonders am fehlenden Klo in der elterlichen Wohnung. Ihm war das "Klo auf der Zwischentage, das vier Mietparteien benutzten, mehr und mehr peinlich bis ekelhaft, weil es immer verdreckt von den Nachbarskindern oder besetzt war, wenn es nötig wurde. Eine Stinkzelle, deren Wände Finger beschmiert hatten". Er mochte auch seine Klassenkameraden, die "feinen Pinkel", nicht zu sich nach Hause einladen und schreibt dazu in seinem Buch: "Meine Schulfreunde wuchsen in Fünfzimmerwohnungen mit Badezimmer und Toilette auf, in dem es Toilettenpapier von der Rolle weg gab und nicht wie bei uns zu Quadraten gerissene Zeitung".

Toilette auf der Zwischenetage

Als wir vom Dachboden herabsteigen, stellen wir überrascht fest, dass die Zelle in der Zwischenetage nach wie vor ihrem Zweck dient. Auch für dieses Kabuff organisiert Jolanta einen Schlüssel. Reinlich, ockerfarben gestrichen, mit einem Mini-Porträt des polnischen Papstes an der Wand, ist das Örtchen auch heute noch unverzichtbar für die Hausbewohner.

Natürlich sorgt meine wunderbare Fremdenführerin auch für einen Blick in Babkas Wohnung. Als wir eintreten, riecht es nach Pilzen, stolz zeigt sie uns in der Küche ihre Ausbeute. Kiloweise Steinpilze schwimmen in großen Blech- und Plastikschüsseln. So muss sie ausgesehen haben, die Grass'sche Heimküche.

Platz in der Ofenecke

In Babkas Wohnzimmer steht ein alter Kachelofen aus Vorkriegszeiten. Grass liebte den warmen Platz neben dem Ofen. Auf einer Schrankwand, bestes sozialistisches Nachkriegsdesign, stehen Familienbilder, Vasen, Sammelgeschirr und weiterer Nippes. Ein Bildnis von Johannes Paul II., umrahmt von einer rot-grün-blau-blinkenden Elektrokerzenkette, hat einen Ehrenplatz an der Wand zwischen den Fenstern. Den Hausaltar unter dem Papst ziert eine Marienstatue aus Porzellan. Vierzig Jahre währte der sozialsitische Weg Polens. Für ein Ende des Versuchs sorgte der Pole Karol Wojtyla.

Platz in der Ofenecke

Wir bedanken und verabschieden uns von der Babka, aber noch nicht von der "verkapselten" (Grass) Vergangenheit des Schriftstellers. Von weitem ist der hohe Turm der Herz-Jesu-Kirche in der ul. Mireckiego zu sehen, als wir wieder durch die Straßen laufen. Der Besuch des katholischen Gotteshauses ist für Jolanta ein "Muss". Schließlich wurden dort Grass und seine Kopfgeburt, das Oskarchen, getauft. In dem neugotischen Bau befindet sich noch heute der Marienaltar mit der kleinen Jesusfigur. In der Grass'schen Geschichte hängte der kleinwüchsige Oskar ihr seine Blechtrommel um und erlebte eine Enttäuschung: Die Jesusfigur wollte partout nicht spielen.

In der Nähe, am Uphagenweg, im feineren Viertel, kreuzen sich wieder Jolantas und Günters Wege. "Hier lebte ich früher mit meinem Mann", erzählt sie, als wir durch die Straße mit den "protzigen Villen" (Grass) schlendern. Die Häuser haben den Krieg überstanden. In der Straße wohnten Grass' Klassenkameraden, die "feinen Pinkel", mit denen er das Gymnasium besuchte.

Jolanta zieht mich weiter, dorthin, wo der Günter einst die Höhere Bildung genoss: zum Conradinum. Vor dem Gebäude steht eine Schüler-Gruppe. Die Mädchen tragen weiße Blusen und schwarze Röcke, die Jungen weiße Oberhemden mit schwarzen Hosen. Bunte Schultaschen und Rucksäcke kontrastieren die elegant-elitären, schwarz-weißen Schuluniformen.

Conradinum

Über dem Portal des Schulgebäudes steht noch heute der Name "Conradinum". Die Lehranstalt hatte einst große Bedeutung für die Bildungsgeschichte Danzigs. 1995 übernahm die polnische Schule den Namen und reihte sich damit in die Tradion der deutschen Schule ein.

Grass war stolz darauf, Mitglied des traditionsreichen Gymnasiums zu sein. Doch sein Aufenthalt auf der Elite-Schule war nur kurz. Die Lehrerkonferenz verwies den Danziger Bowke* von der Anstalt, weil er "aufsässig und unverschämt frech" war, so die Begründung.

In der Danziger Technischen Universität treffen wir Jolantas Neffen. Gemeinsam geht's zurück in die Wohnung meiner Gastgeberin. Und wieder zeigt sich, dass Jolanta es genießt, ihre Gäste auch kulinarisch zu verwöhnen. Nach einer würzigen Vorsuppe tischt sie russische Teigtaschen mit Quark und Käsefüllung auf. Einfach köstlich.

Am frühen Abend gehen wir wieder an die Ostsee. Diesmal laufen wir nicht nach Zoppot, sondern in die entgegengesetzte Richtung, nach Brösen, dem heutigen Brzezno. Und wieder treffen wir auf Grass' Spuren. Im Leben des kleinen Oskar zählten die Ausflüge an den Strand von Brösen zu seinen Höhepunkten. Beim Spaziergang begegnet Familie Matzerath einem Fischer, der mit einem Pferdekopf Aale fängt - genial in Szene gesetzt in der Verfilmung der "Blechtrommel" von Volker Schlöndorff. Nicht nur Oskars Mutter, auch vielen Zuschauern verdarb diese Episode des Films für immer den Appetit auf Aal.

Beim Barfußlaufen im feuchten Ostseesand löst sich an meinem linken Fuß ein Zehennagel. Zwar schmerzlos, aber meine geschundenen Füße sehen genauso unästhetisch aus. Immerhin haben sie mich bis an die Ostsee getragen! Als die Sonne am Horizont versinkt, kommt Wind auf.

*"Der Bowke ist ein pfiff´ger Wicht, besser ist´s man traut ihm nicht. Er bummelt gern umher und glaubt, ein jeder Kniff sei ihm erlaubt."

(Johannes Trojan, 1837-1915)

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Anmerkungen bitte an:


Carsten Voigt

Bildarchiv Ostsicht

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