Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 22. Tag

Mittwoch, 13. September 2006  - "Fichgerichte" und "Fleischgerechte"

Von Starogard Gdanski (Preußisch Stargard) nach Tczew (Dirschau), 25 Kilometer

Das Hotel Bacchus ist fein. Dafür etwas teurer. Beim Bezahlen schlägt die Dame an der Rezeption auf den Zimmerpreis von 120 Zloty noch 27 Zloty für das Frühstück. Gegen kurz vor neun Uhr gehe ich los. Das Hotel am Ortsausgang von Starogard Gdanski liegt verkehrsgünstig zu meinem heutigen Ziel Tczew (Dirschau) an der Weichsel.

Es ist frühherbstlich mild. Hohe Bäume werfen in der Morgensonne lange Schatten auf die Fahrbahn. Mein Handy klingelt. Am Telefon ist Marta G., meine Kollegin aus Warschau. Sie hatte mir vor meiner Wanderung durch Polen nützliche Hinweise gegeben. Jetzt möchte sie hören, wie es mir auf meinem Fußmarsch durch ihr Heimatland bisher ergangen ist. Ich kann ihr nur Gutes berichten. Bis auf die Wetterkapriolen und meine Wehwehchen zu Beginn meiner Unternehmung habe ich wunderschöne Tage gehabt.

Apfelbäume bei Wacmierek (Klein Watzmirs)

Um meinen Weg abzukürzen, verlasse ich hinter dem Dorf Wacmierek (Klein Watzmirs) die Fernstraße 22. Bei Gorki (Georgenthal) will ich an die polnische Nord-Süd-Verbindung, die Fernstraße 1, gelangen. Ab jetzt laufe ich durch eine liebliche, leicht hügelige Landschaft. Traktoren pflügen die dunkle Erde. Rot leuchten reife Äpfel in den Obstplantagen.

Auf einer Bank am Wegesrand, neben einer kleinen Gedenkstätte für polnische Gefallene des Zweiten Weltkrieges, pausiere ich. An dem Rastplatz ist in polnischer Sprache zu lesen: "Der du vorbeigehst, nimm' Platz und sprich' ein Gebet für die Opfer des Krieges". Ich lasse mich nieder.

Gedenkstätte mit Rastplatz

Nach einer Stunde erreiche ich die Fernstraße 1. Linkerhand führt der Weg nach Danzig, rechts geht es zur Hauptstadt Warschau. Mit der ländlichen Idylle ist es vorbei. Die Fahrbahn ist in hervorragendem Zustand. Anreiz für die Autofahrer, richtig Gas zu geben.

Tzcew, die Kleinstadt an der Weichsel, die zu deutscher Zeit Dirschau hieß, kündigt sich an. Beiderseits der Straße steigt die Reklamedichte. Großflächige Werbetafeln verweisen auf einen Einkaufs-Markt namens "Hypernova". "Hyper" muss es schon sein. Ein "Hyper"-Markt gilt eben mehr als ein simpler "Super"-Markt. Logos vom Schuhgeschäft Deichmann und dem Elektronik-Händler Media-Markt beweisen, dass westliche Kaufhausketten die polnische Provinz erobert haben.

Ein Kirchturm wie ein Schiffssegel

Wie tags zuvor laufe ich an einer Trabantenstadt mit neuen Wohnblocks vorbei. Auch hier steht eine neu errichtete Kirche im Ortszentrum. Wie ein riesiges Schiffssegel überragt der Turm die mehrgeschossigen Gebäude.

In Tczew kaufe ich einen Stadtplan und frage den Verkäufer nach einer Unterkunft. Um preiswert zu übernachten, so rät er mir, solle ich doch ins Schul-Internat in die Ulica Gdanska gehen.

Marktplatz von Tczew (Dirschau)

Zunächst aber zieht es mich ins alte Stadtzentrum, zum Marktplatz von Tzcew. Erschöpft aber zufrieden mit meiner Laufleistung, setze ich mich auf eine Tasse Kaffee ins "Café Mocca". Schnell komme ich mit dem Besitzer, der recht gut deutsch spricht, ins Gespräch. Deutsche Gäste sind immer herzlich willkommen. Sie gelten als zahlungskräftig.

Der Wirt erzählt vertrauensvoll, dass er im vergangenen Jahr sein Café zu einem Restaurant umgebaut hat und künftig auf höhere Einnahmen hofft. Der Name "Café Mocca", so mache ich ihm deutlich, ist allerdings missverständlich. Schließlich geht sein Angebot laut deutschsprachiger Speisekarte weit über Kaffee und Kuchen hinaus. Ich lese etwas von "Fichgerichte" und "Fleischgerechte". Neben "Kalbeisbann auf Kartoffelpuffer Serviert" wird "Panga in Wasserdampfe Gekocht". Dazu werden noch anderen deftige Gerichte angeboten. Ich schmunzle über das Deutsch und beschließe wiederzukommen, nachdem ich eine Unterkunft gefunden habe. Diese deutsch-polnische Küche muss ich kennenlernen.

Mein kleiner Stadtplan führt mich zu einer Hochhaussiedlung. Am Rand des tristen Viertels entdecke ich das Internat "Zespol Szkol Ekonomicznych". Es ist in einem grauen kasernenartigen 60er-Jahre-Bau untergebracht. "Pokoje goscinne", Gästezimmer, steht auf einem Schild, das zum Haupteingang zeigt. Dass vor der Tür ein Polizeifahrzeug parkt, erweckt allerdings mein Misstrauen. Wurden die Ordnungshüter gerufen, um für Ruhe zu sorgen? Jugendliche laufen laut gestikulierend an mir vorbei.

Internat Zespol Szkol Ekonomicznych

Die Dame an der Rezeption ist gelassen freundlich. Umstandslos händigt sie mir einen Schlüssel aus. Das Zimmer finde ich am Ende eines langen, schmalen Ganges. Es ist geräumig, hat ein Duschbad und riecht nach Bohnerwachs. Sonnenlicht fällt durch die bodenlangen Stores. Der Schatten zeichnet feine Muster auf den Fußboden. Neben der Eingangstür hängt die Hausordnung an der Wand. So viel Polnisch verstehe ich: Paragraph 6 mahnt, von 22 bis 7 Uhr Ruhe zu halten. Das dürfte mir nicht schwer fallen, denke ich.

Nach einem erfrischenden Duschbad gehe ich, befreit vom Gepäck, nur mit dem Fotoapparat ausgerüstet, an die Weichsel. Am Ufer des breiten Flusses erfreut mich eine friedliche Abendstimmung. Die Luft ist milde, es ist fast windstill. Träge murmelnd fließt das Wasser hin zur Baltischen See. Zwei Jungen hocken auf der Uferbrüstung und unterhalten sich. Ein Mann führt seinen Hund spazieren. Krähen kreisen um die vier trutzigen Pfeilertürme der alten Brücke, die sich hunderte von Metern über Fluss und Schwemmland spannt.

Die Weichselbrücke bei Tczew mit vier Pfeilertürmen

Vom "Wunderwerk der Baukunst", berichtete 1858 die "Gartenlaube", das erste große deutsche Massenblatt, über die Brücke bei dem "westpreußischen Städtchen Dirschau". Mitte des 19. Jahrhunderts fragten sich den Planer der Preußischen Ostbahn, die von Berlin nach Königsberg führen sollte: "Wie kommen wir über die Weichsel?" Die Ingenieure entschieden sich für eine sogenannte Gitterbrücke. Vorbild für die ungewöhnliche Konstruktion war die kurz zuvor fertiggestellte Britannia Bridge in Wales. Die neuartige Bauart ermöglichte es, den Abstand zwischen den Pfeilern besonders groß zu halten. Die 837,3 Meter lange Weichelsquerung bekam nur sechs Öffnungen mit einer außergewöhnlichen Stützweite von jeweils 130,88 Metern. Denn "die Gewalt des Stromes, welcher namentlich zur Zeit des Eisganges mit Ungestüm zwischen den hohen Uferdämmen dahin schießt, mache es nothwendig, ihm so wenig Pfeiler wir möglich entgegenzustellen", erklärte die "Gartenlaube".

Die Brücke mit Flusslandschaft bei Tczew

Eis und Hochwasser haben dem Bauwerk fast hundert Jahre lang nichts anhaben können. Erst das Zünden gewaltiger Sprengladungen während des Zweiten Weltkrieges führte zu erheblichen Beschädigungen der militärstrategisch wichtigen Überführung. So finden sich von der alten Brücke nur noch in drei Feldern die originalen Gitterträger. Heute ist sie eine der ältesten großen eisernen Balkenbrücke und bildet mit den verbliebenen vier Pfeilertürmen ein technisches Denkmal.

Auf den heutigen Betrachter wirkt die Brücke etwas zusammengeflickt. Doch sie fasziniert mich. Ich fotografiere Weichsel und Viadukt. Viele Gebäude der Altstadt Tczews sind erhalten, wie etwa das stattliche Postgebäude. Zahlreiche Häuser sind aber renovierungsbedürftig. Der Marktplatz wirkt beschaulich. Kleine Mädchen planschen am Springbrunnen. Jungen toben einem Ball hinterher. Kleinstadtidylle.

Postgebäude in Tczew

Als ich wieder vor dem Café Mocca sitze, bringt mir der Wirt höchstpersönlich seine deutsche Speisekarte. Ich entscheide mich für "Hähnchenbrust aus dem Bratrost in Zwiebel Konfitüre", einen frischen Salat und ein polnisches "Lech"-Bier.

Spielende Kinder auf dem Marktplatz

Nach dem Essen kommt der Wirt erneut mit der Speisekarte zu mir. Sein Anliegen scheint ihm unangenehm zu sein. Trotzdem fragt er: "Sie Journalist, bitte meine Essenkarte mit richtig Deutsch schreiben?" Offensichtlich hatte er bemerkt, wie ich schmunzeln musste, als ich seine in deutscher Sprache angepriesen Gerichte las. "Ja, aber gern", antworte ich, erfreut über sein Vertrauen. Aber was ist "Kalbeisbann auf Kartoffelpuffer"?

Was ist "Kalbeisbann auf Kartoffelpuffer"?

Es ist dunkel, als ich mich auf den Weg ins Internat mache.

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Carsten Voigt

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