Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg) Tagebuchaufzeichnungen - 25. Tag Sonnabend, 16. September 2006 - Mit dem Blick für Vergangenes Auszeit in Danzig: Auf den Spuren von Günter Grass Heute plant Jolanta einen Intensiv-Kurs in Danziger Geschichte. Nach üppigem Frühstück fahren wir mit dem Vorortzug ins Zentrum. Kreuz und quer zieht mich meine dynamische Gastgeberin durch die Gassen der Altstadt. Mein (Vor)urteil über die Ostseemetropole an der Mottlau bestätigt sich schnell: An jeder Ecke lauert Geschichte. Am Alten Holzmarkt, heute Targ Drzewny, prescht ein wilder, wie von Furien getriebener Reiter über den Platz. Es ist das Denkmal für den glorreichen "Türkensieger" Jan III Sobieski, unter dessen Kommando 1683 die Osmanen am Kahlenberg bei Wien vernichtend geschlagen wurden. Denkmal für Jan III Sobieski Das Denkmal für den polnischen König hat einen langen Weg hinter sich. Im Jahre 1898 geschaffen, stand die Statue zunächst in Lemberg, der ehemaligen Hauptstadt Galiziens. Nach Eingliederung der Stadt in das kommunistische Sowjet-Reich, wurde der wehrhafte Nationalheld nach Polen verfrachtet. Jahrzehntelang befand sich der Reiter im Warschauer Wilanów Park, bis er 1965 nach Danzig überführt wurde. Jan Hevelius
Wir laufen weiter mit dem Blick für Vergangenes. Vorbei am Astronomen Jan Hevelius, der vor dem Altstädter Rathaus mittels eines Quadranten den Lauf der Planeten berechnet. Wir bewundern den größten Wirtschaftsbau des Mittelalters, die "Große Mühle" und die älteste Kirche Danzigs, die Katharinen-Kirche. Sie schaut aus, wie nach einem Bombenangriff. Ein Brand ließ vor einigen Monaten das Dach des Kirchenschiffs einstürzen. Alles ist nur notdürftig abgesichert. Es ist noch früh am Tag und ich ahne, dass das Besichtigungsprogramm noch einiges bereithält. Und ich sollte recht behalten. Kaum eine Sehenswürdigkeit oder ein Mahnmal wird ausgelassen. Später, beim Abfassen meiner Tagebuchnotizen, frage ich mich: Soll ich das alles aufschreiben? Das steht doch in jedem Reiseführer. Große Mühle Auch der große Wanderer und Dichter Johann Gottfried Seume* hatte vor gut 200 Jahren auf seinem Weg nach Syrakus ähnliche Bedenken. Als er Venedig erreichte, notierte er: "Wenn ich Künstler oder nur Kenner wäre, könnte ich Dir viel erzählen von dem was da ist und was da war, aber das ist alles Dir wahrscheinlich schon aus Büchern bekannt; und ich würde mir vielleicht weder mit der Aufzählung noch mit dem Urteil große Ehre erwerben." Klar will ich keine "große Ehre erwerben", will jedoch erwähnen, was besonders eindrucksvoll ist. So ein Blick auf die ehemalige Polnische Post. Für Polen ist das Backsteingebäude ein Symbol für den standhaften Widerstand gegen die übermächtigen Deutschen, erklärt Jolanta mir. Als am 1. September 1939 die Wehrmacht mit dem Beschuss der Westerplatte den Zweiten Weltkrieg einleitete, griffen deutsche Verbände gleichzeitig die Polnische Post an. 14 Stunden dauerte der Kampf, den Günter Grass eindrucksvoll in der "Blechtrommel" beschreibt. Heute befindet sich in dem Haus ein Museum, das an die Geschehnisse erinnert. Neben dem Portal steht ein Denkmal für die polnischen Verteidiger, die nach ihrer Gefangennahme zum Tode verurteilt wurden. Trotz aller Tragik wirkt mir die Plastik zu pathetisch. Denkmal für polnische Verteidiger Weiter führt uns der Rundgang zur ehemaligen Lenin-Werft. Hier gründete Lech Walesa 1980 die erste unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc. Neben dem Werfttor 2 ragt ein Ehrenmal für die gefallenen Werftarbeiter in den wolkenlosen Danziger Himmel. An der Metall-Pforte hängen Porträts des verstorbenen polnischen Papstes Johannes Paul II. und seines deutschen Nachfolgers Benedict XVI. Werfttor Nicht unerwähnt soll der Besuch der Danziger Rechtstadt bleiben. Wir besichtigen die berühmte Marienkirche und gehen durch das Goldene Tor in die Langgasse. Originalgetreu rekonstruierte Häuser zeugen vom einstigen Wohlstand der Danziger Patrizier. Beim Wiederaufbau der Danziger Altstadt steigerten die polnischen Arbeiter ihre handwerklichen Fähigkeiten. Heute sind sie mit ihrem Sachverstand in ganz Europa gefragte Experten. Vor dem Rechtstädter Rathaus treffen wir Jolantas Cousin Chistof. In einer Milchbar kann ich mich mit einem kleinen Imbiss für Jolantas Gastfreundschaft bedanken. Zusammen beobachten wir das rege Treiben auf dem Langen Markt. Menschen aller Herren Länder flanieren vor dem Artushof und dem Brunnen mit der Skulptur des Meeresgotts Neptun. Er soll Danzigs enge Beziehung zum Meer symbolisieren. Danziger Langgasse Durch das Grüne Tor gelangen wir an die Mottlau. Auf der Promenade vor dem alten Hafenkran drängen sich Hunderte mit Kameras behängte Touristen. Das alte Hebewerk am Fluss ist ein beliebtes Fotomotiv und wohl das bekannteste Wahrzeichen Danzigs. Krantor an der Mottlau Musik schallt über das Wasser. Ein Zweimaster gleitet majestätisch, mit gerefften Segeln, angetrieben durch einen gleichmäßig stampfenden Schiffsmotor, in ein Hafenbecken. Fesche Jungs klettern in den Wanten und winken überschwänglich den Schaulustigen am Kai zu. Das Schulschiff "Kapitan Glowacki" der Polish Yachting Association kommt heute von einer Reise zurück. Später lerne ich, dass die Brigantine 1944 in Swinemünde erbaut wurde und als Vorpostenkutter der deutschen Kriegsmarine diente. Nach dem Krieg fiel das Schiff als Reparationsleistung an Polen. In den Wanten Jolantas Intensiv-Kurs ist immer noch nicht beendet. "Fahren wir zur Westerplatte", schlägt sie vor. Schon sitzen wir im Auto von Cousin Chistof. Über eine eintönige Asphaltpiste gelangen wir auf die langgestreckte Halbinsel. Wir lassen das Fahrzeug auf einem leeren Parkplatz stehen und gehen zu Fuß weiter. Am Weg stehen Ruinen, Überreste polnischer Kasernen. Gedenkplatten mit den eingravierten Namen der polnischen Verteidiger, sind in Blumenrabatten gesenkt. Gedenkstätte auf der Westerplatte Mir wird immer bewusster: Danzigs Geschichte ist deutsch-polnische Geschichte. Hier auf der Westplatte begann am 1. September die große Tragödie des Zweiten Weltkriegs. Um 4.45 Uhr eröffnete das deutsche Kadetten-Schulschiff Schleswig-Holstein das Feuer auf das polnische Munitionslager. Sechs Tage lang hielt die 182 Mann starke polnische Garnison der erdrückenden Übermacht der deutschen Angreifer stand, danach rückte die Wehrmacht gen Osten vor. An der Spitze der Halbinsel ragt auf einem künstlichen Hügel das 23 Meter hohe Westerplatte-Denkmal empor. Kränze liegen am Fuße des Betonsockels. Nur wenige Menschen steigen die Stufen zur Statue hinauf. Gegenüber im Hafenkanal, der die Halbinsel nach Süden hin begrenzt, liegt das Fährschiff MS Scandinavia. Es verkehrt regelmäßig zwischen Danzig und Nynäshamn bei Stockholm. Die Schleswig-Holstein lag am 1. September 1939 in ähnlicher Position. Fährschiff MS Scandinavia Es ist bereits Nachmittag. Jolantas Energie scheint unerschöpflich. "Wir könnten noch nach Stutthof fahren, Carsten. Der Ort ist nur 35 Kilometer entfernt." Ich willige ein und ahne, was auf mich zukommt. Tor zum Konzentrationslager Stutthof Als wir durch das sogenannte Todestor des Konzentrationslagers Stutthof gehen, erinnere ich mich an meine Besuche in Buchenwald und Auschwitz. Stutthof ist ebenso ein Ort der Kälte und Unmenschlichkeit. Mich fröstelt, als ich über das Gelände Blicke. Es bleibt unfassbar, was Menschen Menschen antun können. Nach einem Rundgang fahren wir schweigend zurück nach Danzig. * Johann Gottfried Seume: "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802"
Anmerkungen bitte an:
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