Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg) Tagebuchaufzeichnungen - 14. Tag Dienstag, 5. September 2006 - "Sind Sie Schneidemühler?" In Pila (Schneidemühl) Ich stehe um 7.15 Uhr auf. Meine Füße schmerzen. Sie wollen beachtet und gepflegt werden. Ich darf sie nicht vernachlässigen, sonst kommen meine Etappenziele ins Wanken. Zwei Stunden später sitze ich am Frühstückstisch. Heute will ich einen Tag aussetzen und mich von den Wanderstrapazen erholen. Doch ich kann nicht lange stillsitzen. Am Bahnhof von Pila soll es ein Internet-Café geben. Pila wirkt wie eine Stadt aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der historische Stadtkern von ehemals Schneidemühl ist bis auf wenige Gebäude weitgehend zerstört. Eintönige Wohnblocks stehen mal kreuz mal quer zu den großzügig neu angelegten Straßen. Der Bahnhof zählt zu den älteren Gebäuden der Stadt. Das Internet-Café befindet sich in dem ehemaligen Abfertigungsgebäude. Es ist dunkel in dem Computer-Raum. Die Fenster sind von innen verhangen. Aber immerhin - eine Verbindung nach Hause kommt zustande. Internet-Cafe auf dem Bahnhof von Pila / Schneidemühl Auf meinem Rückweg zum Hotel, gehe ich eine andere Strecke. Schon aus der Ferne leuchtet das von 1912 bis 1915 erbaute Barockgebäude der katholischen Kirche "Zur heiligen Familie" im fahlen Sonnenlicht. Die mächtigen weiß-gelben Doppel-Türme waren im Krieg niedergebrannt. Ende der vierziger Jahre bauten Pilas polnische Einwohner sie wieder auf. Vor dem Portal steht ein Denkmal des polnischen Papstes Johannes Paul II. Denkmal für Papst Johannes Paul II. Katholische Kirche "Zur heiligen Familie" Als ich wieder ins Gromada komme, begrüßt mich ein freundlicher Herr, der hinter dem Tresen der Tourismus-Information im Empfangsbereich des Hotels steht. Es ist Andreas Kortas-Zytur. Er kennt sich aus in Pila. In Schneidemühl gab es früher sieben Kirchen, sagt er in akzentfreiem Deutsch. Er sei in Krojanke (heute Krajenka), etwa 20 Kilometer von Pila entfernt, geboren und aufgewachsen, erzählt er mir. Nach der Wende habe er vier Jahre in Deutschland bei Hameln in Hessisch-Oldendorf gelebt. Seine guten Deutschkenntnisse verhalfen ihm zu seinem Job im Hotel. Meine Heimatstadt Hamburg kenne er auch, berichtet er schmunzelnd. Dort erlangte er sogar eine gewisse Popularität. Auf dem Fischmarkt posierte er in einer russischen Militär-Uniform für die "Bild"-Zeitung. Im Hotel Gromada übernachten viele deutsche Heimwehtouristen. Häufig sind es ganze Busladungen, die auf ihrer Tour in weiter östlich gelegenen Heimatorte Station machen. Auch ehemalige Schneidemühler sind darunter. Die polnische Stadt hat den früheren deutschen Einwohnern ein Denkmal errichtet. Der Bau der Erinnerungsstätte hatte seinerzeit zu heftigen Diskussionen in der Öffentlichkeit geführt, berichtet Kortas-Zytur. Deutsche und Polen lebten vor dem Krieg lange Zeit in einem besonderen Spannungsverhältnis. Unweit von Schneidemühl begann der sogenannte "Polnische Korridor". Nach dem Versailler Vertrag trennte er das Reichsgebiet von der zum Deutschen Reich gehörenden Provinz Ostpreußen. Meine Großmutter, erinnert sich Kortas, erzählte mir, als ich klein war, vom „Blauen Ritter“. So nannten die Deutschen den Zug, der täglich von Berlin über Küstrin kommend bei Konitz durch den Polnischen Korridor ins Ostpreußische Königsberg preschte und dabei frühmorgens Schneidemühl passierte. Philips, größter Arbeitgeber in Pila Pila ist heute Kreisstadt. Die Einwohnerzahl ist gegenüber deutscher Zeit stark gestiegen. Größter Arbeitgeber der Stadt, so Kortas-Zytur, ist mit 3700 Beschäftigten der Elektronikkonzern Philips. Die Fabrikation von Beleuchtungstechnik hat in Pila Tradition. Einst waren hier die Polan-Werke angesiedelt. Anfang der neunziger Jahre bauten die Holländer das Werk aus. Außerdem ist Pila "die Stadt der Drucker", sagt Kortas. Auch Erzeugnisse deutscher Verlage sollen hier gedruckt werden. Kortas ist froh, dass er bei der Tourismusinformation Arbeit gefunden hat - obwohl er keine Tausend Zloty brutto im Monat verdient, also weniger als 250 Euro. Wie in Deutschland geht auch in Polen die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander, bedauert er. Viele junge Polen ziehen nach Ende der Schulausbildung fort und versuchen ihr Glück woanders.Sie wandern nach Irland, Schweden oder Spanien aus. Deutschland ist aufgrund wirtschaftlicher Probleme nicht mehr so attraktiv für den Nachwuchs des östlichen Nachbarn. Ältere Polen leiden besonders unter der Arbeitslosigkeit. Evangelisches Gemeinhaus in Pila Kortas ist Mitglied der evangelischen Gemeinde in Pila. Sie hat ihr Domizil in dem "am schönsten renovierten Haus in Pila", sagt er stolz. "Nach Dienstschluss kann ich es ihnen zeigen." 60 Mitglieder hat die Gemeinde, schätzt er. Im katholischen Polen sind Protestanten in der Minderheit. Seit einiger Zeit bestehen Kontakte zu einer deutschen Gemeinde in Heiligenstadt bei Kassel. Vorsteher der polnischen Protestanten ist Pfarrer Tomasz Wola. Wir machen uns auf den Weg zum evangelischenGemeindehaus. Als ich ins Hotel zurückkehre, kommt ein grauhaariger Herr mit einem Namensschild auf der Brust auf mich zu und fragt mich unverblümt: "Sind sie Schneidemühler?" "Nein, ich komme aus Hamburg", antworte ich, "ich bin auf der Wanderung nach Königsberg." Ungläubig schaut er mich an. Wir kommen ins Gespräch. "Ich bin Schneidemühler", erzählt mir Klaus Giese. Im Gromada betreut er deutsche Reisengruppen. Der Heimat-Experte bestätigt meinen Eindruck, dass im Zentrum der Stadt während des Krieges vieles zerstört wurde. Alles wurde neu geplant. „Wir sagen, der dritte Weltkrieg war 1981, 1989 war die Wende.“ Das Hotel Gromada wurde 1987 erbaut. An gleicher Stelle befand sich einst die älteste Kirche der Stadt, die Johanniskirche. Beim Hotelbau stießen Arbeiter auf Fundamente der alten polnischen Kirche. Doch die Überreste wurden zubetoniert. Die Polen hätten hier die Chance gehabt, ihre Existenz an diesem Ort schon in der Frühzeit nachzuweisen, sagt Giese. Doch die Chance habe man nicht genutzt. Schließlich war Schneidemühl nur 173 Jahre deutsch. Wir kommen auf die aktuelle politische Situation in Polen zu sprechen. 2005 hatten die Parlamentswahlen in Polen zu einem Politikwechsel geführt. Die Wahlen gewann die rechtskonservative PiS mit Jaroslaw Kaczynski an der Spitze. Wenig später entschied sein Zwillingsbruder Lech Kaczynski die Präsidentschaftswahlen für sich. „Ich finde die Politik gut," sagt Giese, "man will die Leute von früher zur Rechenschaft ziehen. Vor allen Dingen diejenigen, die beschubst haben." "Ich selber bin kein Pole, ich bin staatenlos", erzählt er, "als sie mich zu Militär einziehen wollten, zwangen sie mich, einen polnischen Ausweis anzunehmen. Der war aber nur fünf Jahre gültig. Dann habe ich einen deutschen Pass bekommen, den die Polen nicht anerkennen wollten. Jetzt bin ich staatenlos und wohne nun hier. Wenn ich wählen will, muss ich nach Deutschland fahren. Hier kann ich nicht wählen. So ist es.“ Rathaus von Pila /Schneidemühl Voller Stolz erzählt Giese von seinem Bruder Arno. Der habe ein Buch über einen weitgehend unbekannten deutschen Soldaten namens Urban Thelen geschrieben. Dem tief gläubigen Katholiken aus Winden in der Eifel war es unter großer Gefahr für Leib und Leben während der Besetzung Polens im Juni 1941 gelungen, unersetzliche Reliquien des Heiligen Adalbert vor der Zerstörung durch die Nazis aus der Kathedrale von Gnesen zu retten. Die in Sicherheit gebrachten Heiligtümer kehrten nach Kriegsende in die Kirche zurück. Bei einem Treffen in Gnesen bedankte sich Papst Johannes Paul II. 1997 persönlich bei dem Deutschen für seine mutige Tat. Während unseres Gesprächs dringt mit zunehmender Lautstärke einschlägiges deutsches Liedgut aus dem Veranstaltungssaal des Hotels. "Das ist eine Reisegruppe aus Kaltenkirchen", sagt Touristenbetreuer Giese, "sie singen sehr schön, nicht wahr?" „Bella, bella Marie...“ und dann: „Wo de Nordseewellen trecken an den Strand...“ und weiter: „Horch was kommt von draußen rein...“. Es ist spät geworden. Morgen muss er sich um die eifrigen Sänger kümmern. Wir verabschieden uns. . Anmerkungen bitte an:
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