Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 13. Tag

Montag, 4. September 2006  -  Der Gottesmann von Skrzatusz (Schrotz)

Von Walcz (Deutsch Krone) über Skrzatusz (Schrotz) nach Pila (Schneidemühl), 25 Kilometer

Gegen halb zehn verlasse ich das Motel „Za Grosik“ in der ul. Nowomiejska. Wolkenfetzen jagen bedrohlich über den Himmel - immerhin, es regnet nicht. Das Unwetter vom Vortag hat sich verzogen.

Nach einer halben Stunde Fußmarsch erreiche ich das Zentrum von Walcz, ehemals Deutsch Krone. Die Stadt mit ihren fast 30.000 Einwohnern war jahrhundertelang Grenzstadt, in der sich die wechselvolle Geschichte von Deutschen und Polen abspielte. Immer wieder zerstörten Krieg und Feuersbrünste den Ort, der nach der Teilung Polens von 1772 bis 1945 zu Preußen und zum Deutschen Reich gehörte.

In der Walczer Kilinszczakow-Straße, ehedem Königsberger Straße, residiert in einem stattlichen Backsteingebäude wie früher die Post

 

 

 

 

Vom Marktplatz gehe ich zur  Kilinszczakow-Straße. Sie hieß früher Königsberger Straße, wie ich anhand eines alten Stadtplans herausfinde. Der alte Straßenname gibt mir Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein.

Passanten eilen durch die gut besuchte Einkaufsstraße. Sie nutzen die Regenpause für ihre Besorgungen. Zwischen kleinen Geschäften steht ein stattliches, sakral anmutendes Backsteingebäude mit spitzem Turm. Es ist keine Kirche. Wie zu Vorkriegszeiten residiert hier die Post. Am Schalter verkauft mir eine freundliche Beamtin Ansichtskarten und Briefmarken. Im Straßencafé gegenüber sende ich bei einem Cappuccino Grüße nach Hause.

Heute nehme ich mir vor, die verdammte Fernstraße 22 zu verlassen. So geht es nicht weiter. Die vorbeirasenden  Autos und die Abgasschwaden der Lkws sind unerträglich. Nach einer überschlägigen Berechnung bin ich mir jetzt sicher: Die Strecke nach Kaliningrad ist in vier bis fünf Wochen zu bewältigen. Da kann ich mir sogar kleine Abstecher und Umwege leisten. Heute Abend will ich in Pila sein. Ich freue mich auf eine Wanderroute abseits der Hauptverkehrsstraße.

Bevor ich die Stadt verlasse, befolge ich den Tipp meiner Warschauer Kollegin Maria G. und suche die Walczer Tourismusinformation auf. Ich finde sie im Souterrain des Rathauses. Die Leiterin, Beata Stankiewicz, spricht zu meiner Erleichterung hervorragend deutsch.

Im Souterrain des Walczer Rathauses befindet sich das Fremdenverkehrsbüro

 

 

 

 

„Besuchen Sie die Wallfahrtskirche von Skrzatusz“, rät sie mir auf meine Frage nach Sehenswürdigkeiten entlang meines Weges. „Dort gibt es einen freundlichen Pfarrer, der auch deutsche Reisegruppen empfängt.“

Als ich mich verabschiede, zieht sie ein schmales Büchlein aus einem Regal. „Das schenke ich Ihnen“, sagt sie, „hier habe ich Sagen und Geschichten aus unserem Landstrich zusammengetragen und niedergeschrieben.“ Leider ist die Sammlung in polnischer Sprache verfasst. „Legendy Ziemi Waleckiej“, lese ich. Dankbar nehme ich Büchlein und Rat von Beata an und verlasse Walcz in Richtung Skrzatusz. Später bedaure ich, dass ich die Autorin nicht gebeten habe, eine Widmung für den Wanderer in den kleinen Band zu schreiben.

Der Autoverkehr ebbt ab, als ich von der Ausfallstraße am Schloßsee (Jezioro Zamkowe) in Richtung Przybkowo (Philippshof) abbiege. Gärten, Knicks und Felder bestimmen die Landschaft. Endlich bin ich allein. Erstmals umgibt mich auf meiner Wanderung eine Gemächlichkeit aus vormoderner Zeit.

Partie am Jezioro Zamkowe (Schloßsee) in Walcz (Deutsch Krone)

 

 

 

 

Aber Einsamkeit ruft Unsicherheit hervor. Ein klappriger Kombi hält neben mir. Der Fahrer, ein junger Mann, dreht die Scheibe herunter und spricht mich an. Er bemerkt, dass ich kein Polnisch verstehe und zeigt hinter sich. Der Fond seines Wagens ist mit Äpfeln gefüllt. Sie lagern auf der Rückbank, nicht in einem Behälter, sondern einfach so. Nur nicht das Portemonnaie zücken, denke ich, es könnte die längste Zeit in deinem Besitz gewesen sein. Doch dann zweifle ich wegen meiner Bedenken: Vielleicht will er sich mit dem "Fallobst frei Auto" nur ein paar Zloty verdienen? Aber mein Unbehagen rät zur Vorsicht. Rasch wende ich mich ab und marschiere weiter.

Wieder allein, steigen bedrückende Phantasien auf: Was geschieht, wenn der Apfelverkäufer mir an der nächsten abgelegenen Straßenecke auflauert? Ich verdränge die Gedanken und forciere mein Tempo.

Rozewo (Rosenfelde): Die schrillste Hausfarbe Mitteleuropas

 

 

 

 

Der nächste Ort, Rozewo (Rosenfelde), dieser kleine unbedeutenden Flecken zwischen Walcz und Pila, bleibt mir unvergesslich. Denn in dem Dorf ereilt mich ein Schock, ein Farbschock. Ist es pink,  lila, violett oder eine Mixtur der drei Farben? Einen derartigen Hausanstrich habe ich noch nicht gesehen. Spontan wähle ich die Mischung zur schrillsten Hausfarbe Mitteleuropas. Ein Foto ist obligatorisch.

Endlich erreiche ich Skrzatusz. Am Ortseingang empfängt mich ein Puppenpärchen aus Stroh. Die Ernte ist eingebracht. Am Himmel drohen dunkle Regenwolken. Die Bewohner haben sich in ihren Häusern verschanzt. Auf der durch einen breiten Grünstreifen geteilten Dorfstraße ist keine Menschenseele zu sehen.

Dann, am Ende der Straße, entdecke ich das angekündigte „kulturelle Highlight“: die Wallfahrtskirche von Skrzatusz. Einsam und verlassen steht das 1694 erbaute Gebäude am Dorfrand. Die rosa getünchte, massige barocke Fassadenfront mit den sich nach oben verengenden Säulen wirkt in der ländlichen Abgeschiedenheit irgendwie deplaziert. Der kleine Holzturm neben dem Eingangsportal mutet an wie ein Modell für einen Kirchturm, das noch nicht zur Ausführung gekommen ist.

Die Wallfahrtskirche von Skrzatusz (Schrotz). Die Pieta machte das Dörfchen  über Jahrhunderte zum Anziehungspunkt der Gläubigen

 

 

 

 

Das hölzerne Kirchentor ist angelehnt und knarrt im Wind. Im Innern der Kirche herrscht eine dumpfe Stille. Ich blicke mich um. Was ist so außergewöhnlich an diesem verloren wirkenden Gebetshaus auf dem Lande?

Die Kirche besticht durch die Kanzel und einen gewaltigen barocken Hochaltar mit einer Pieta aus dem 15. Jahrhundert, lese ich später. Das Gnadenbild von Schrotz, was soviel wie Schrothaus bedeutet, erhob das Dörfchen bereits vor Jahrhunderten zum Wallfahrtsort.

Als ich das Gotteshaus verlasse, durchbricht das Kläffen eines kleinen Hundes die dörfliche Ruhe. Im Haus gegenüber öffnet sich im Obergeschoss ein Fenster. Ein Mann mit silbergrauem Haarschopf schaut heraus und winkt mich wortlos herbei.

Wenig später steht er in der Eingangstür und bittet mich einzutreten. Ich bin erleichtert, für einen Moment Schutz vor der widrigen Witterung zu finden und stelle mich vor. Der freundliche ältere Herr mustert mich. Hamburg – Berlin – Königsberg, die Städtenamen ergeben keinen Sinn für jemanden, der offensichtlich der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Schnell finde ich heraus, dass es sich um den besagten Pfarrer aus Schrotz handeln muss. "Trinken? Essen? Ja?" Mit Freude nehme ich seine Einladung an.

Der katholische Gottesmann trägt ein weißes Hemd mit Stehkragen und eine  schwarze Strickjacke. Er führt mich in die Küche des Pfarrhauses. Sie ist geräumig und modern eingerichtet: Elektrische Geräte, Kochherd und furnierte Küchenzeile glänzen neuwertig. Ich gebe zu verstehen, dass ich gern einen Becher heißen Kaffee hätte.

Wir lassen uns am Küchentisch nieder. Gern würden wir uns unterhalten, müssen aber beide schnell feststellen, dass mein polnischer und sein deutscher Sprachschatz beschränkt ist. Mit einer Geste liebenswürdiger Verlegenheit greift der Pfarrer zum Telefon. Ich vermute: jetzt wird er jemanden herholen, der beide Sprachen spricht.  

Nach wenigen Worten reicht er mir den Hörer. Ich stelle mich am Telefon vor. Es folgt keine Antwort, nur Schweigen. Dann fragt eine mir bekannte weibliche Stimme: „Herr Voigt, waren sie nicht heute Vormittag im Tourismusbüro?“ Am Apparat ist Beata Stankiewicz, die freundliche Frau vom Walczer Fremdenverkehrsamt. Offenbar hatte ich ihren Tipp falsch gedeutet. Denn ein polnischer Pfarrer, der deutsche Reisegruppen empfängt, muss nicht unbedingt deutsch sprechen.

Etwas ratlos setzen wir uns wieder an den Küchentisch: Auch wenn wir uns nur dürftig verständigen können, Blicke und Gesten lassen vermuten, wir sind uns sympathisch.

Während ich meinen heißen Kaffee genieße, krame ich mein Tagebuch hervor und bitte den Pfarrer seinen Namen einzutragen. "Jozef Slowik", lese ich. „Nachtigall, Nachtigall“, sagt er plötzlich, und erklärt mir dann, dass 'Slowik' auf deutsch 'Nachtigall' heißt. In Polens religiösen Zentrum Tschenstochau sei er geboren und aufgewachsen, erzählt er mir, und seit fünf Jahren lebe er nun in Skzratusz. Zuvor sei er Kustos des Sanktuariums der Kolberger Diozöse gewesen. Die deutsche Übersetzung seines Namens hat er behalten.

Theologe Nachtigall wohnt im Schrotzer Pfarrhaus zusammen mit seinem "Vikarius". „Pa ruski, tolko muschtschine“, sagt er. Nur Männer wohnen hier. Allerdings gäbe es eine Haushälterin, die den beiden Geistlichen zur Hand geht. „Madame heute frei“, erklärt er in gebrochenem Deutsch.

Er möchte mir etwas über die Historie seiner Kirche erzählen. Leider kann ich nicht alles verstehen.  Aus einer Küchenschrankschublade holt er Ansichtskarten hervor und murmelt: „Unsere Madonna, unsere Madonna“, und reicht mir dabei Abbilder der Pieta zum Geschenk. Rückseitig lese ich einen Text für deutsche Pilger: „Du schmerzhafte Jungfrau von Schrotz, Mutter des auferstandenen Christus, Helferin der Leidenden, wir geben Dir unser Leben und unsere Arbeit, unsere Schmerzen und Freuden. Wache über unsere Treue zu Gott, stärke die Einheit der Familien, bewahre die junge Generation vor Sünde und Verderbnis, erbitte Frieden für die Welt und hilf uns, immer mehr einander Brüdern und Schwestern zu sein. Amen.“

Noch einmal versuche ich dem Pfarrer mein Vorhaben, meinen Wanderweg, zu beschreiben. Doch er versteht mich nicht. Er begreift nicht, dass mein Pilgerweg nicht nach Santiago de Compostela, sondern nach Kaliningrad, ins ehemalige Ostpreußen führt. Aber an seinem Gesichtausdruck kann ich ablesen: Er glaubt, was ich sage, und das bedeutet mir viel.

Pfarrer Jozef Slowik mit dem Gästebuch der Wallfahrtskirche von Skrzatuzs (Schrotz)

 

 

 

 

 

 

Unvermittelt erhebt sich der Pfarrer und verschwindet für einen Moment im Haus. Als er zurückkommt, trägt er ein mächtiges, in rotbraunes Leder eingebundenes Buch unter dem Arm. Es ist das neue Gästebuch der Wallfahrtskirche von Schrotz. Sorgsam schlägt er die Seiten auf. Drei Einträge befinden sich darin. Der erste ist ein Geleitwort der Orgelbaufirma W. Sauer aus Frankfurt (Oder), die 2005 die Orgel restaurierte.  

Ich bin gerührt, als Pfarrer Slowik mich auffordert, etwas in das Buch zu schreiben. Eine Ehre für den Wanderer. Kurz darauf verabschiedet er mich vor dem Pfarrhaus und wünscht: „Dzin tego, do rego, gute Reise“.

Es stürmt heftig, als ich Skrzatusz verlasse. Vor der Begegnung mit dem gastlichen Geistlichen war meine Stimmung auf dem Nullpunkt. Jetzt bin ich froh. Das gestenreiche Gespräch mit ihm hat mich aufgemuntert. Für einen Moment hatte mich der Theologe von meiner Einsamkeit abgelenkt.

Wandern – wie ich es seit einigen Tagen betreibe – ist ein einsames Vergnügen. Ich stehe morgens allein auf, frühstücke wortlos, laufe tagsüber kilometerweit ohne Begleitung, verbringe den Abend wie ein Eremit in einer Herberge.

Am Horizont taucht ein Regenbogen in den dunklen Ackerboden. Der Pfarrer Slowik hat mich fröhlich gemacht

 

 

 

 

Auf dem Weg nach Szydlowo beginnt es zu regnen. Der Wind ist zu stark, um einen Schirm aufzuspannen. Fasziniert verfolge ich die Wolkengebilde am Himmel. Am Horizont endet ein Regenbogen in schwarzbraunen Ackerfurchen. Es ist spät. Noch vor Eintritt der Dunkelheit will ich Quartier nehmen. Trotzdem unterbreche ich immer wieder meinen Weg und zücke meinen Fotoapparat, um Natur und Himmel festzuhalten.

Endlich stehe ich am Stadtrand von Pila, der Stadt, die früher Schneidemühl hieß. Ich brauche allerdings noch fast eine Stunde, bis ich das Zentrum erreiche. Es dämmert als ich das Hotel Gromada endlich sehe. Das Drei-Sterne-Gasthaus ist das höchste Gebäude im Ort. Ein Neubauklotz aus den achtziger Jahren.

Verschwitzt betrete ich die Hotellobby. Ich fühle mich wie ein Vagabund. Nur Mut, denke ich, als ich auf die Rezeption zusteuere, mehr als abweisen können sie dich nicht. Doch ich werde sehr zuvorkommend behandelt. „Renovierte Zimmer kosten 225 Zloty, nicht renovierte 110 Zloty“, erklärt freundlich lächelnd die junge Dame hinter dem Tresen. Ich entscheide mich für die preisgünstige Variante.

Mein „nicht renoviertes Zimmer“ erweist sich als Glücksgriff. Es befindet sich im obersten, im 12. Stockwerk, und bietet einen phantastischen Blick auf die Stadt.

Pila, ehemals Schneidemühl: Blick aus dem 12. Stock des Hotels Gromada auf die Neubauten der Stadt

 

 

 

 

Als ich zur Ruhe komme, bemerke ich, wie sehr meine Füße schmerzen. Eine Blase am Zeh ist aufgeplatzt. Die Beinmuskulatur ist fest. Mühsam steige ich in die auf einem Podest stehende Badewanne. Heißes Wasser bringt endlich Entspannung.

Das Fernseher empfängt zwei deutschsprachige Privatsender und die Deutsche Welle. Ich bekomme Durst und raffe mich noch einmal auf. Gegenüber vom Hotel kaufe ich in einem Lädchen Mineralwasser und Bier. Nach dessen Genuss falle ich todmüde ins Bett.

12. Tag 14. Tag

Anmerkungen bitte an:


Carsten Voigt

Bildarchiv Ostsicht

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