Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 15. Tag

Mittwoch, 6. September 2006  -  "Über Kimme und Korn"

Von Pila (Schneidemühl) nach Zlotow (Flatow), 30 Kilometer

Um sechs Uhr stehe ich auf, frühstücke vor sieben. Beine und Füße melden: Der Ruhetag gestern hat mir gut getan.

Um sieben Uhr verlasse ich das Gromada-Hotel in Pila. Schnell befinde ich mich auf der Wojewodschaftsstraße 188 Richtung Zlotow (Flatow). Stadtauswärts laufe ich an einem elend langen Werkszaun entlang. Dahinter sehe ich die Fabrikgebäude der Philips-Werke. "Philips Lightning Poland" steht in großen Buchstaben auf einem der blauweiß-gestrichenen Häuser. Die Holländer sind überall vertreten, sogar in der polnischen Provinz.

Kurz hinter dem Industriegelände endet der Fußweg. Ich bin wieder gezwungen, am Straßenrand entlang zu stolpern. Das ist mühselig. Aber diese Art von Verkehrswegen sind eben für Autos vorgesehen. Leider ist die Strecke ebenso befahren wie die Fernstraße 22, die ehemalige Reichsstraße 1, die ich aufgrund des hohen Fahrzeugaufkommens verlassen habe, um mehr Ruhe zu haben.

Philips-Werke in Pila (Schneidemühl)

Neben der Fahrbahn verlaufen auf einem kleinen Damm die Bahngleise der ehemaligen Ostbahn. Mir kommt der „Blaue Ritter“ in den Sinn, der Zug, von dem mir gestern Andreas Kortas erzählte. Die Bahn preschte hier vor 80 Jahren vorbei und verband einst Berlin mit Königsberg. Rechts der Straße ragt ein Bunker aus dem Gebüsch. Er gehörte wohl zum früheren Pommernwall.

Bunker neben den Gleisen der Ostbahn zwischen Pila (Schneidemühl) und Krajenka (Krojanke)

Es ist kühl. Die Sonnenstrahlen mühen sich durch die Wolkendecke. Regen ist nicht zu erwarten. Heidekraut blüht am Straßenrand. Pilzsammler streifen beidseitig der Fahrbahn durch das Unterholz. Leider fehlt mir die Zeit, ebenfalls auf die Suche von Birkenpilzen und Maronen zu gehen.

Immer wieder bin ich gezwungen neben der Straße durchs kniehohe Gras zu stapfen, um Abstand zu den Autos zu kriegen. In Gedanken kategorisiere ich die Menschen hinter dem Lenkrad in Rücksichtsvolle, die rechtzeitig ein großen Bogen um den wandernden Rucksackträger schlagen, und in Fahrer, die stur auf mich zuhalten und mir dabei noch frech ins Gesicht blicken. Wollen sie mir Angst einjagen? Nach dem Motto, mal schauen, wer zuerst ausweicht. Besonders rücksichtslos sind die BMW-Fahrer. Dabei haben sie augenscheinlich ihr Fahrzeug kaum unter Kontrolle. Die vielfach aufgemotzten Renner schliddern auch hier von Bodenwelle zu Bodenwelle. Wie ein Stück Wild vor dem Abschuss visieren sie mich über Kimme und Korn an und denken offensichtlich: Na, springst du zur Seite oder willst du mich zwingen, meine Geschoßbahn zu ändern?

Pilzsammler Pilzausbeute

 

So kann ich die Landschaft nicht genießen! Hier hat es einen Igel erwischt. Dort steht am Straßenrand ein kleines Christuskreuz in Gedenken an einen übermütigen Unglücksfahrer, an anderer Stelle ein verblichenes Licht - vielleicht für einen leichtsinnigen Wanderer?

Nach etwa zwei Stunden erreiche ich den ersten Ort. Er heißt Skorka (Schönfeld). In dem Dorf müsste es einen Fußweg geben. Doch nein, die Gemeinde hat ihn eingespart. Immerhin ist der Straßengraben frisch ausgemäht. Notfalls ist ein Hechtsprung dort hinein meine Rettung. Unklar bleibt, wie die Dörfler, die ihre Nachbarn "mal eben" besuchen möchten, mit dieser ständigen Gefahr durch die Autofahrer leben.

In den Gärten kläffen Hunde. Menschen sind nicht zu sehen. Reklameschilder sind in den Boden gerammt. In regelmäßigem Abstand preisen sie „Okna“ und „Dweri“. Es gibt wohl kaum ein europäisches Land, in dem das Angebot an Türen und Fenstern derartig umfangreich und vielfältig ist.

Gegen 14 Uhr erreiche ich Krajenka, zu deutscher Zeit Krojanke. In diesem kleinen Ort rattern die Reifen der Fahrzeuge noch über das Katzenkopfpflaster aus Vorkriegstagen. Auf einem Werksgelände einer Firma namens Lechpol flattert das Sternenbanner der Europäischen Union. Offenbar fließen auch hier Gelder zur Unterstützung des jungen EU-Mitgliedes.

Ein VW-Bus hält neben mir. Das Seitenfenster wird heruntergekurbelt. Freudestrahlend grüßt aus dem Auto der Schneidemühler Touristenführer Klaus Giese, den ich am Vorabend im Hotel in Pila kennengelernt hatte. Er ist mit einer kleinen Reisegruppe unterwegs. "Alles ehemalige Krojanker", ruft er, "die meisten von ihnen besuchen zum ersten Mal ihren Geburtsort wieder." Giese wendet sich seinen Gästen zu und erzählt ihnen von meinem "irren" Vorhaben. Mit besten Wünschen verabschiedet sich die gutgelaunte Truppe.

Rathaus von Zlotow (Flatow)

Gegen 17 Uhr erreiche ich Zlotow, zu deutscher Zeit Flatow. Der Ort liegt an einem malerischen See. Das Zentrum versprüht den Charme eines verschlafenen, gutsituierten Kurorts. Die meisten Häuser sind liebevoll restauriert. Selbst die unvermeidlichen Plattenbauten fügen sich, frisch gestrichen, in das Bild einer aufgeräumten Kleinstadt.

Durch eine Fußgängerzone erreiche ich das Hotel "Dom Polski". Für 100 Zloty einschließlich Frühstück quartiere ich mich ein. Auf dem Weg in mein Zimmer entdecke ich im zweiten Stock des Gebäudes ein Schild, das auf eine "deutsch-polnische, sozial- und kulturelle Gesellschaft" hinweist. Offensichtlich residiert hier eine Gruppe der deutschen Minderheit. Deren Arbeit würde mich sehr interessieren. Doch leider sind die Räume nicht besetzt.

Hotel "Dom Polski" in Zlotow (Flatow)

Im Hotelrestaurant bestelle ich noch einen kleinen Imbiss. Gegen 22 Uhr liege ich im Bett. Vor dem Einschlafen treibt mich die Frage um, welchen Weg ich morgen nehmen soll. Wandern mit Muße war heute leider wieder nicht möglich.

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Carsten Voigt

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