Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 1. Tag

Freitag, den 2. Juni 2006 – Abschied vom Hauptmann

Von Berlin-Köpenick nach Kagel im Landkreis Oder-Spree

„Petri heil!“, ruft ein kecker Kerl, als wir aus dem Hotel treten und er die riesigen Rucksäcke auf unseren Schultern erblickt. Wir sind doch Wandersleut’ und keine Angler, denke ich, was soll ich erwidern? Wir kommen aus Hamburg, also: „Mors, Mors!“

Unter der ungewohnten Last wanken meine Frau und ich über das Köpenicker Kopfsteinpflaster. Wir sind mit unserem Namensvetter, dem Schuster Wilhelm Voigt, am Rathaus verabredet. Er steht da und wartet, in seiner bronzenen Hauptmannsuniform.

Vor dem roten Backsteingebäude harrt ein weiterer Kerl aus. Er trägt einen Strohhut, eine goldfarbene Weste und kurbelt eifrig an einer Drehorgel. Im Köpenicker Rathaus befindet sich das Standesamt. Der Leierkastenmann und eine Handvoll Hochzeitsgäste erwarten am Portal ein frisch getrautes Brautpaar. Derweil rührt sich der Hauptmann nicht vom Fleck. Ich lege ihm meinen Arm auf die Schulter, zwirble despektierlich seinen Bronzebart und flüstere: „Ich will zu Fuß von Berlin nach Königsberg laufen.“ Er verzieht keine Miene.

Abschied vom Hauptmann von Köpenick am Rathaus in Berlin-Köpenick: „Ich will zu Fuß von Berlin nach Königsberg laufen.“

 

 

 

Wir waren zeitig aufgestanden. Sorgfältig hatten wir unsere Sachen sortiert. Was nehmen wir mit? Auf welche Sachen können wir verzichten? Nur das Nötigste wollen wir mitschleppen. Als wir gegen zehn Uhr morgens das Hotel verlassen, sind die Rucksäcke randvoll. Welch ein Gewicht! Ich kann mein Gepäck kaum schultern. Ob wir unter dieser Last jemals unser erstes Ziel, den Oder-Fluss, erreichen?

Der Fußmarsch von Berlin-Köpenick Richtung Osten nach Küstrin ist der Auftakt meines ungewöhnliches Pilger-Weges von Berlin nach Kaliningrad. Bis an die Oder, die Deutschland von Polen trennt, will ich über die Pfingsttage mit meiner Frau Erika laufen. Ende August - so meine Planung - werde ich den Weg alleine fortsetzen - von Küstrin, das heute Kostrzyn heißt, bis ins russische Kaliningrad, das einst den Namen Königsberg in Preußen trug.

Mein Weg folgt der ehemaligen Reichsstraße 1. Ursprünglich führte die 1392 Kilometer lange Route von Aachen über Berlin, Küstrin, Landsberg (Warthe), Dirschau, Elbing, Königsberg, Insterburg und Gumbinnen bis nach Eydtkuhnen an die damalige deutsch-litauische Grenze. Sie entwickelte sich aus der "Via Regia", der ottonischen Königsstraße von Aachen nach Magdeburg, die im rheinisch-westfälischen Bereich auf den noch älteren "Hellweg" zurückgeht.

Parallel zur Straße verlaufen noch heute die Gleise der ehemaligen Königlich Preußischen Ostbahn. Die Strecke von Berlin nach Königsberg entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Eisenbahnmagistrale Europas und zur Hauptachse des mitteleuropäischen Ost-West-Verkehrs.

Drehorgel vor dem Köpenicker Rathaus: Der Leierkastenmann erwartet ein Brautpaar

 

 

 

 

Köpenick: Weltbekannt wurde die Gemeinde vor den Toren Berlins im Jahre 1906 durch den arbeitslosen Schuster Wilhelm Voigt. Es ist die Geschichte vom einfachen Handwerksgesellen, der verkleidet als Preußischer Hauptmann den Köpenicker Bürgermeister verhaften ließ und die Stadtkasse konfiszierte. Er führte dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat seinerzeit sein groteskes Spiegelbild vor Augen. Ganz Deutschland amüsierte sich über den Coup. „Man gehe in ein Restaurant, fahre auf der Eisenbahn oder benutze die Straßenbahn, überall hört man von dem Heldenstückchen reden“, schrieb damals der sozialdemokratische „Vorwärts“. Sogar der Kaiser soll darüber gelacht haben. Der schlitzohrige Schlemihl ist mir recht, historisch begründeten Einwänden an der Ostroute zu begegnen.

Am Ziel meines Fußmarsches in Kaliningrad werde ich - wenn alles klappt - auf den Geist eines weiteren tolldreisten Landsmanns treffen: Baron von Münchhausen. Man mags kaum glauben, aber in Russland kennt diesen Aufschneider jedes Kind. Zahllose Bücher in kyrillischer Schrift berichten von seinen phantastischen Erlebnissen. Auch in Kaliningrad ist er berühmt. Weil Münchhausen einst durch das preußische Königsberg galoppierte, schenkte die Weser-Stadt Bodenwerder den Kaliningradern im Sommer 2005 zum 750-jährigen Stadtjubiläum ein Denkmal des Lügenbarons. Seither treiben die „Enkel Münchhausens“, ein lockerer Zusammenschluss aufmüpfiger russischer Schelmen, in der alten Preußenstadt ihr Unwesen. Ich freue mich darauf, ihnen die Geschichte vom Hauptmann von Köpenick zu erzählen. Sie werden sich amüsieren.

Restaurant „Schuster Voigt“ in Berlin-Köpenick

 

 

 

 

Leicht geänderter Bericht aus der „Zeitung für Mittenwalde und Umgebung“ vom 18. Oktober 1906:

Seinen am 16. Oktober 1906 folgenden Coup plante der arbeitslose Schuster Wilhelm Voigt sorgfältig. So hatte er die vorangegangene Woche dazu benutzt, sich bei verschiedenen Trödlern in Potsdam und Berlin die Uniform eines preußischen "Hauptmanns des 1. Garde-Regiments zu Fuß" zusammenzukaufen. Am frühen Morgen dieses Tages fährt Voigt von seiner Wohnung am Schlesischen Bahnhof zum Bahnhof Beusselstraße. Er holt seine Uniform aus der Gepäckaufbewahrung und läuft zur Jungfernheide, um sich umzuziehen. Gegen Mittag, zur Zeit der Wachablösungen, hält Voigt in der Sylter Straße einen Trupp Garde-Füsiliere an, der aus vier Mann und einem Unteroffizier besteht und auf dem Rückweg in die Kaserne ist. Der Unteroffizier lässt strammstehen und erstattet dem als Hauptmann verkleideten Schuster Meldung. Unter Berufung auf allerhöchste Kabinettsorder unterstellt Voigt die Truppe seinem Befehl. Kurz darauf kapert er die ebenfalls vorbeikommende, abgelöste Wache eines Schießstandes, welche aus sechs Mann besteht. Mit der ihm nun zur Verfügung stehenden Streitmacht von zehn Mann marschiert Voigt zum Bahnhof Putlitzstraße und fährt von dort nach Köpenick. Am Rathaus angekommen, lässt er vor den Portalen und Nebeneingängen Posten aufstellen und die Tore schließen. Die örtliche Polizei wird von Voigt angewiesen, während der Aktion für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Im Vorzimmer des Bürgermeisters lässt Voigt den Oberstadtsekretär festnehmen, danach verhaftet er den Bürgermeister. Den Kassenführer lässt Voigt einen Kassensturz machen und beschlagnahmt dann den Abschlussbetrag von 4000 Mark und 70 Pfennig gegen Quittung. Anschließend lässt er den Bürgermeister und den Kassenführer zur Neuen Wache nach Berlin abtransportieren. Seiner Truppe gibt Voigt den Auftrag, die Wachen nach einer halben Stunde abzuziehen, mit der Bahn nach Berlin zurück zu fahren und sich in der Neuen Wache zu melden. Danach verlässt er das Rathaus in Richtung Bahnhof  Köpenick und verschwindet mit 4000 Mark.

 

Fischreiher am Schiffsanleger „Köpenick / Luisenhain“

 

 

 

 

Gegenüber vom Rathaus mit dem Talmihauptmann liegt der Schiffsanleger „Köpenick / Luisenhain“. Mittags gehen wir bei herrlichem Sonnenschein an Bord des Ausflugsdampfers „Sanssouci“. Seh' ich recht? Drückt der Hauptmann ein Auge zu, als wir es uns im Heck bequem machen?  Lautlos, wie ein weißer Schwan, gleitet das Boot durch die Müggelspree in den Großen Müggelsee. Datschen, ausgebaut zu kleinen Residenzen, säumen das Ufer. Fischreiher verharren regungslos auf hölzernen Bootsstegen. Hausbesitzer hinter Turbomähern rasieren den Rasen pfingstfein. Das Schiff fährt in den Dämeritzsee durch das "Schnelle Loch“, über das Flakenfließ in den Flakensee bis nach Woltersdorf. Entspannt sitzen wir im Ausflugsdampfer. Ist das nicht ein Traumstart zu unserer beschwerlichen Wanderung?

In dem Boot sitzt uns ein junges Paar gegenüber, Kurzurlauber aus Treptow, wie sie berichten. Der muskulöse Mann mit dem kurz geschorenen Haar schwärmt von Berlins Naherholungsgebieten und fachsimpelt übers Fotografieren. Immer wieder zückt er seine Kamera und lichtet seine Begleiterin ab. Sie lächelt nichtssagend. Als ich erzähle, dass unsere Pfingsttour der Auftakt zu einer Wanderung von Berlin nach Kaliningrad ist, ernte ich verständnisloses Schweigen. Keine Nachfrage wie etwa: „Habe ich Sie richtig verstanden, Kaliningrad?“ Stattdessen reicht er mir seinen Fotoapparat und bittet: „Würden Sie uns fotografieren?“.

An Bord des Ausflugsdampfers „Sanssouci“ durch die Müggelspree

 

 

 

 

Gegen Mittag verlassen wir am Anleger Woltersdorf das Boot. So, jetzt geht's richtig los, natürlich auf Schusters Rappen. Zunächst noch ein kurzer Blick auf die Woltersdorfer Schleuse. Die Konstruktion ist ein Foto wert. Sie entstand bereits 1550 als Stauschleuse zwischen Kalksee und Flakensee. Der letzte große Umbau erfolgte 1998, als die Schleusenbrücke zu einer Klappbrücke ausgebaut wurde. Lastkähne, die den Kalk vom Rüdersdorfer Zementwerk transportieren, gehören ebenso zu den Schleusenden, wie die vielen Kanu- und Sportbootfahrer, die auf den Rüdersdorfer Gewässern ihre Freizeit verbringen. Vom Ufer aus sehen wir die Kranichsberge mit dem 105 Meter hohen Aussichtsturm. Die schweren Rucksäcke halten uns davon ab, ihn zu besteigen.

Woltersdorfer Schleuse

 

 

 

Am Rand des Kalksees gehen wir auf dem "Heideweg" Richtung Rüdersdorf. Die Sonne brennt, doch die Baumwipfel bieten uns Schutz. Leise schlagen kleine Wellen ans Seeufer. Eine Entenfamilie flüchtet, als wir uns nähern. Im Norden des Gewässers unterquert der Weg die Autobahn. Die breite Brücke nimmt wie ein gewaltiger Beton-Schirm Menschen, Häusern und Gärten das Sonnenlicht. An einer Hauseinfahrt steht auf rostigem Blech: „Autoausfahrt.“

In Rüdersdorf gehen wir an der „Franz-Künstler-Siedlung“ vorbei. Wer war Franz Künstler? Später lerne ich, dass Künstler Berliner SPD-Vorsitzender war, den die Nazis ins Gefängnis steckten. Er starb dort 1942.

Rüdersdorf lebt seit Jahrhunderten vom Kalk. Schon 1250 begann der Abbau von Kalkstein aus den Muschelkalkhöhlen, deren Formation einzigartig ist. Die Rüdersdorfer dürfen sich rühmen, den Baustoff für die Terrassen von Sanssouci und das Brandenburger Tor geliefert zu haben.

In Alt-Rüdersdorf beeindruckt die um 1250 entstandene massive spätromanische Feldsteinkirche. Neben dem Gotteshaus legen wir die Rucksäcke ab und rasten. Meine Frau breitet an einem schattigen Plätzchen eine Decke über das Gras, zieht zwei Holzbretter aus dem Gepäck und legt metallene Messer und Gabel dazu. Das hat Stil! Und Stil hat Gewicht! Ahnungsvoll frage ich: „Ja, und was haben wir als Marschbekleidung dabei?“ Aha: vier Garnituren Wäsche für vier Wandertage - aber immerhin keine Wackersteine!

Feldsteinkirche in Alt-Rüdersdorf

 

 

 

Östlich von Alt-Rüdersdorf durchqueren wir ein Waldgebiet. Holprige, sandige Forstwege erschweren unser Fortkommen. Stundenlang treffen wir keine Menschenseele. Am Möllensee führt der Weg durch eine ausgedehnte Waldsiedlung. Die zwischen hohen Kiefern versteckten Datschen aus der DDR-Zeit haben ihre Bewohner zu stattlichen Wohnhäusern ausgebaut. Und immer wieder sehen wir Hinweisschilder mit der Aufschrift: „Privatweg“, "Privatbesitz, Betreten verboten!“, „Privatgrundstück, Vorsicht Hund“. Allerhand Privates in einer Gegend, in der bis vor anderthalb Jahrzehnten Eigentum als Allgemeingut galt. Die Bewohner, die wir in ihren Gärten antreffen, scheinen aber aufgeschlossener zu sein als ihre Behausungen. Freundlich geben sie Auskunft über den Weg. Na klar: Wanderer, erkennbar an riesigen Rucksäcken, sind schrullig und harmlos. Die Wachhunde dösen weiter vor ihrer Hütte.

Vorbei am Baberow- und Elsensee erreichen wir am Abend nach 15 Kilometern Fußmarsch tief hinein in die Mark Brandenburg das Örtchen Kagel. Am Dorfeingang erblicken wir das Gasthaus „Schwarzes Rössel“. Schöner Name. Schlummert hier eine märkische Sehnsucht nach dem austrischen Salzkammergut? Hinter dem Gebäude reihen sich - sozialistisch gleichförmig - Ferienwohnungen aneinander, scheinbar allesamt unbewohnt.

Wir treten in den Schankraum. Es ist niemand zu sehen. Im "Sommergarten" treffen wir die Besitzerin mit Tochter und Enkelkind. Ja, sie können hier übernachten, bescheidet sie uns, für 45 Euro einschließlich Frühstück. Sie übergibt uns den Schlüssel für die Nummer drei: Zwei Zimmer, Bad, Kochzeile und braunfurnierter Wäscheschrank mit lockeren Scharnieren, Marke VEB. Alles etwas piefig, aber sauber und geräumig. Es ist Freitag vor Pfingsten, 19 Uhr. Unsere Beine sind schwer geworden, der Rücken schmerzt. Wir sind froh, ruhen zu können.

Ferienwohnungen vom Gasthaus „Schwarzes Rössel“ im brandenburgischen Kagel

 

 

 

Wir sind die einzigen Gäste, aber der Fernseher streikt. Kein ZDF, etwa ein Funkloch? Um den Mangel zu beheben, zitiert die Besitzerin telefonisch ihren Schwiegersohn herbei. Nach kurzer Zeit erscheint ein hilfsbereiter junger Mann. Stoisch ohne viel Worte lässt er die Programme vor- und zurücklaufen. Auch ein Austausch des Antennenkabels bringt nicht den gewünschten Sender auf die Mattscheibe. Die Wirtin bittet mich, einige Appartements weiterzuwandern. Immerhin, im Haus Nummer 10 läuft das letzte Vorbereitungsspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft vor Beginn der Weltmeisterschaft. Jetzt bin ich live am Bildschirm dabei.

Kaum habe ich es mir in meiner TV-Herberge behaglich gemacht, steht meine Frau in der Tür. Sie lacht triumphierend. „Das Länderspiel gibt’s jetzt auch in Nummer drei zu sehen“, sagt sie. Zweimal nur habe sie auf ein Knöpfchen der Fernbedienung gedrückt, und schon liefen Klinsis Buben über den Bildschirm. Der Abend ist gerettet. Deutschland gewinnt 3:0 gegen Kolumbien, und Klinsmann schwäbelt in die Kameras: „Wir sind hungrig auf das Turnier.“ Wir essen erst einmal Abendbrot.

 

 A  2. Tag

 

Anmerkungen zum Tagebuch bitte an:


Carsten Voigt

Bildarchiv Ostsicht

Radekoppel 35

22397 Hamburg

Tel.: 6082905, mobil 0176/23506645

Email: Info@ostsicht.de

Home