Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg) Tagebuchaufzeichnungen - 2. Tag Samstag, den 3. Juni 2006 - „Watt woll'nse denn da?“ Von Kagel nach Müncheberg Am Morgen finden wir, wie besprochen, den Schlüssel für den Schankraum im Versteck auf der Terrasse. Das Frühstück steht schon auf dem Tisch: Eier, Schinken, Käse, Brot. Wir brauchen Kraft für unsere Tour und vertilgen alles restlos. Kurz vor unserem Abmarsch werfe ich noch einen Blick in die „Märkischen Oderzeitung“. Ich stöbere gern in Regionalzeitungen. Sie vermitteln, was die Menschen vor Ort bewegt. „2000 Jahre Geschichte unter einem Dach - Kanzlerin Merkel eröffnet Deutsches Museum“, lautet die Schlagzeile. Na ja, denke ich, ein schönes Pfingstthema, das sicher auch die Hamburger Zeitungen ganz vorn platzieren. Auf Seite zwei, unter "Meinung und Hintergrund", schauen mich „fröhlich, aber nicht sorgenfrei“ die Politiker Oskar Lafontaine, Lothar Bisky und Klaus Ernst an. Ihr Thema: "Wirren um die geplante Fusion von Linkspartei und WASG". Dann eine Überraschung. Im Wochenendjournal entdecke ich einen Bericht über das Ziel meiner Wanderung. „Ein neues Herz für Kaliningrad“, lautet der Artikel. Er befasst sich mit den Wiederaufbauplänen des 1969 gesprengten Königsberger Schlosses. Die Ankündigung ist eine kleine Sensation. „Kaum etwas war in Kaliningrad, dem früheren Königsberg, bislang schwerer vorstellbar: Mitten im ausgelöschten historischen Zentrum soll jetzt das Wahrzeichen der alten Ostpreußen-Metropole auferstehen - das Königsberger Schloss“, schreibt Thoralf Plath. Der Autor ist mir persönlich bekannt. Ich hatte ihn bei meinen Besuchen in Kaliningrad kennengelernt. Der Journalist hat seinen Wohnsitz aus Deutschland ins russische Selenogradsk, dem ehemaligen Ostseebad Cranz verlegt. Wie kein Zweiter ist er mit dem Geschehen im Kaliningrader Gebiet, dem ehemaligen Nordostpreußen, vertraut.
Gasthaus „Schwarzes Rössel“ im brandenburgischen Kagel
Als wir das „Schwarze Rössel“ verlassen wollen, trifft der Wirt ein. Ich erzähle ihm von meinem Vorhaben, zu Fuß nach Kaliningrad zu laufen. Er sieht mich ungläubig an und fragt: „Watt woll'nse denn da? Woll'nse etwa in Königsberg ein Schild hochhalten, wo drauf steht ‚ ’Ick bin wieda da’?“ Die provokante Frage ist berechtigt! Was will ich da eigentlich? Auf jeden Fall kein Schild hochhalten. Nein, auf meinem Weg von Berlin nach Kaliningrad möchte ich der Vergangenheit nachspüren und Landschaft erleben. Wie schaut die Gegend zwischen den ehemaligen preußischen Metropolen Berlin und Königsberg aus? Ich hoffe, Menschen zu treffen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Vieles habe ich über "den Osten" gelesen. Weiteres Wissen will ich mir erlaufen. Der Weg ist das Ziel. "Bewandert war ich nur in der Topographie des Westens, im Osten gab es auf weißer Fläche nur einige Inseln, die hießen Auschwitz und Babi Jar, Theresienstadt und Lidice", schrieb 1994 Ulla Lachauer in ihrem Buch „Die Brücke von Tilsit“. Ihre Schilderung von der Lage im ehemaligen Ostpreußen macht mich neugierig. Die in Münster in Westfalen aufgewachsene Schriftstellerin entdeckte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ihre Liebe zum Osten. Wie Ulla Lachauer erging es auch mir. Die Freiheit im Osten endete für Hamburger nach 60 Kilometern bei Lauenburg an der Elbe, an der verminten Grenze zur DDR. Eine Beschränkung, die auch auf das Bewusstsein der westdeutschen Gesellschaft wirkte. Der Osten war verrammelt und verriegelt, der Westen schien grenzenlos. Er war das Zuhause meiner Generation. Von Kagel führt uns der Weg nach Liebenberg. Es wird kälter, Wind kommt auf. Wir wandern vorbei am Sportleistungszentrum Kienbaum. Der Komplex war früher eine Kaderschmiede ostdeutscher Athleten. In Westdeutschland hatte die Anlage, versteckt im märkischen Sand zwischen hohen Kiefern, den Ruf eines Dopingpfuhls. Spontan fällt mir der Ausspruch eines DDR-Schwimmtrainers ein, der, als er von einem westdeutschen Reporter gefragt wurde, warum die Schwimmerinnen denn so tiefe Stimmen hätten, antwortete: „Wir sind nicht zum Singen, sondern zum Schwimmen hier." Hinter einem Zaun erblicke ich renovierte Sporthallen und neue Leichtathletik-Anlagen. Kienbaum gehört zu den wenigen DDR-Sportzentren, die die Vereinigung des deutsch-deutschen Sports überlebten und den Status eines Bundesleistungszentrums erhielten.
Einfahrt zum Bundesleistungszentrum Kienbaum
Hinter Kienbaum stapfen wir zwischen Kiefern, Birken und Heidekulturen über einen sandigen, schier endlosen Forstweg - weitgehend wortlos, gedankenverloren. Erika prägt dafür den Begriff „aktive Meditation“. Sehr treffend. „Die Landschaft ist karg, weit und ein wenig traurig. Das Land zwischen Elbe und Oder, das Kernland des alten Preußen gehörte nie zu den Sehnsuchtslandschaften der Deutschen. Man fuhr hindurch zu den mondänen Ostseebädern oder in die Weiten Ostpreußens oder Masurens, auf die Kurische Nehrung, nach Königsberg oder Danzig“, schrieb der Publizist Alexander Gauland in einem Essay unter dem Titel „Die Wunder der Streusandbüchse“. Die Mark Brandenburg, verspottet als „des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse“, macht hier ihrem Ruf alle Ehre. Die Endlosigkeit des Weges endet in Schönfelde, einer verträumten Häuser-Ansammlung. Es beginnt zu regnen. Wir lassen uns auf einer Sitzbank an einem verschilften Dorfanger nieder und spannen einen Schirm auf. Unter dem Regenschutz verzehren wir belegte Brote. Als wir weiterlaufen, glänzt die nasse Asphaltstraße, die von Schönfelde nach Müncheberg führt, wie schwarze Lakritz. Akazien stehen spalier. Weiße Blüten-Trauben hängen an den Ästen. Ich ziehe einen Zweig zu mir heran und sauge genüsslich den süßlichen Duft ein. Kurz vor Müncheberg stoßen wir erstmals auf die Bundesstraße 1. Bis 1945 führte die Strecke die Bezeichnung Reichstraße 1. Würden wir die Umgehungsstraße nach Osten wählen, wären wir nach 23 Kilometern in Seelow und bald darauf in Küstrin, kündigt ein Schild an der Kreuzung an. Wir gehen geradeaus nach Müncheberg. Im Hotel Sternthaler erwartet uns ein gemütliches Zimmer zum Aufwärmen, hoffen wir. Der Regen wird heftiger, die Kräfte schwinden, als wir Müncheberg erreichen. Am Ortseingang kniet auf einem Steinsockel, grimmig dreinblickend, ein Sowjetsoldat mit Stahlhelm in der Hand. Sein kantiger Kopf erinnert an den schwedischen Schauspieler Dolf Lundgren. In dem Hollywood-Film „Rocky VI - Der Kampf des Jahrhunderts“ prügelt er sich in der Rolle des russischen Bösewichts mit dem amerikanischen Helden Sylvester Stallone. Wie kann es anders sein - der Gute gewinnt, er zieht den Kürzeren. Zu sehen auf der Leinwand des „Kalten Krieges“.
Sowjetisches Ehrenmal in Müncheberg
Ich steige hinauf zum kantigen Kerl. Vor ihm spiegelt sich, eingefasst in schwarze Fliesen, ein roter Sowjetstern im fahlen Abendlicht. Auf dem Sockel des Ehrenmals lese ich die Jahreszahlen 1941 – 1945 und „Ruhm und Ehre der sowjetischen Helden“. Die Kreisstadt Müncheberg hat 5500 Einwohner. Das „Tor zur Märkischen Schweiz“ hieß in seinen Anfängen um 1225 „Lubes“. Nach dem Rückzug der Klöster aus dem Lebuser Land findet sich schon 1245 der Name „Monichberg“ beurkundet. Die Ansiedlung entwickelte sich schnell zu einer der bedeutendsten Städte der Mittelmark. Handwerk, Handel und Gewerbe blühten. Die Schlacht um die Stadt am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte verhehrende Auswirkungen. Mehr als 85 Prozent der historischen, großteils mittelalterlichen Bausubstanz, wurden zerstört. Die Stadt wurde ihres Charmes und Charakters beraubt und geriet durch den Verlust der Gebiete östlich der Oder in Grenzlage zu Polen. Auch uns kommt etwas in der Stadt abhanden: Die Vorstellung von einem heimeligen Zimmer im Hotel Sternthaler. Es ist geschlossen. Kein „Siebter Himmel“ also. Wir übernachten im profanen Hotel „Rathaus-Eck".
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