Zu Fuß von Berlin nach Kaliningrad (Königsberg)

Tagebuchaufzeichnungen - 21. Tag

Dienstag, 12. September 2006  - "Sprechen alle Polen deutsch?"

Von Bytonia (Bitonia) nach Starogard Gdanski (Preußisch Stargard), 18 Kilometer

Bin ich so spät dran? Als ich gegen 7.30 Uhr in die Küche komme, steht das Frühstück bereits auf dem Tisch. Die Pensionsgäste, die mich geweckt haben, sind fort. "Die meisten Gäste sind Arbeiter, die müssen früh raus", erklärt mir die deutschsprechende Pensionsbesitzerin. Sie hat einige Jahre in Deutschland, im fränkischen Bad Mergentheim, gearbeitet. So erklären sich ihre guten Sprachkenntnisse. Ihre Zimmer sind schlicht und preisgünstig. Für das Frühstück möchte sie zehn Zloty haben.

Gegen acht Uhr gehe ich wieder an die Straße. Die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenlos. Auf den Feldern liegt ein sanfter Herbstschleier. Aus der Ferne kommt mir eine Person zu Fuß entgegen. Gibt es noch andere Menschen, die am Straßenrand wandern? Oder ist es nur ein Pilzsammler, der schon vor Sonnenaufgang unterwegs war? Der Fußgänger trägt eine braune Kutte. Darüber hat er einen gleichfarbigen Kapuzenpullover gezogen. Auf seinem Kopf sitzt eine dunkelbraune Kappe. Ein junger Mönch auf dem Pilgerweg?

Mönch bei Bytonia (Bitonia)

In Zblewo, einst Hochstüblau, liegt ein Friedhof neben der Straße. Die Pfeiler am Eingang sind frisch mit roten Backsteinen aufgemauert. Das Tor ist geöffnet. Auf einer schwarzen Tafel steht in goldenen Lettern auf polnisch: "Byly Cmentarz, Ewangelicki, Grzebalny do 1939 r". Vom Eingang führt eine schmale Buchenallee auf den verwahrlosten Gottesacker. Viele Gräber sind zerstört, Grabplatten zerbrochen, Kreuze aus dem Boden gerissen. Einige lehnen an der schmiedeeisernen Grabeinfassung, wie etwa jenes der im Jahre 1870 verstorbenen Caroliene, Wilhelmiene, Henriette v. Wietersheim, geborene v. Schmude. Zumeist sind es Metallkreuze, die an ehemalige Einwohner erinnern. Auf einem silberfarbenen lese ich: "Hier ruhet in Gott der Cantor Johann Paschke, *19. August 1825, +18. August 1895, 'Du warst uns lieb, Du bleibst uns unvergeßlich'." Daneben erinnert eine Tafel an "Frau Cantor Mathilde Paschke, geb. Heinrich". Gibt es noch Menschen, die sie noch kennen und ihrer Gedenken?

Evangelischer Friedhof bei Zblewo (Hochstüblau)

Bei Sucumin (Sutzmin) steht auf einer Anhöhe ein imposantes aber heruntergekommenes Herrenhaus. Ein mächtiger alter Baum hindert den freien Blick auf das einst herrschaftliche Anwesen. Der Zaun um das Grundstück ist niedergetreten, der Hanggarten verwildert. Das Haus scheint unbewohnt und dem Verfall preisgegeben zu sein.

Später finde ich heraus, dass es sich bei dem Gebäude um das frühere Rittergut Sutzmin handelt. Den Gutshof hatte der Provinziallandschaftsdirekor und Reichstagsabgeordnete Wilhelm Albrecht 1849 erworben. Fast Hundert Jahre blieb das Anwesen in Familienbesitz. Nach dem Krieg wurde es ein sozialistisches Staatsgut, auf dem die neuen Besitzer Schweine mästeten.

Altes Rittergut Sutzmin

Es wird warm. Ich laufe im T-Shirt. An einem Obststand an der Straße kaufe ich Pflaumen. Beim Essen steigt mein Appetit. Ein paar hundert Metern weiter entdecke ich ein kleines Kaufhaus. Auch dieses Geschäft hat die Form eines Schuhkartons. Über dem Eingang steht: "Sklep", zu deutsch "Laden". Neben der Tür steht eine Sitzbank, davor ein Campingtisch und Plastikstühle. Ein Sonnenschirm spendet Schatten. Heute ist der 12. September. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass jetzt noch ein Schirm zum Schutz vor der Sonne notwendig ist.

Ladenbesitzer vor Lebensmittelgeschäft

Schnell komme ich mit dem Ladenbesitzer ins Gespräch. Er spricht deutsch und erzählt, dass er früher in Bremen als Bauarbeiter und Gärtner gearbeitet hat. Seinen Verdienst habe er dann in den Laden investiert.

"Probieren sie eine polnische Wurst, das sind die Besten", fordert er mich auf und greift dabei in die Fleischauslage. "Setzen sie sich draußen an den Tisch, ich bringe ihnen einen Becher Kaffee." Ich erhole mich im Halbschatten, beiße in die würzige Wurst und schlürfe den heißen Kaffee.

Die Polen sind freundlich. Ich bitte den offenherzigen Ladenbesitzer, mich zu fotografieren. Er erklärt sich sofort bereit. Schließlich gestattet er mir, auch von ihm ein Bild zu machen. Stolz postiert er sich mit seiner Mitarbeiterin (oder ist es seine Ehefrau?) unter dem "Sklep"-Schild. In seinem Geschäft fotografiere ich die beiden zwischen Tiefkühltruhe und Spirituosenregal.

Polnische Würste sind die besten

Je näher ich meinem Tagesziel, der 50.000-Einwohner-Stadt Starogard Gdanski, komme, desto dichter wird der Reklamewald links und rechts der Straße. Blechdachhersteller plazieren in Gärten, auf Äckern und Wiesen ihre Schindeln in schrillen Farben. Werbeplakate der Fastfood-Ketten preisen Kalorienreiches mit Ketchup und Mayo. Dazwischen stehen immer wieder Hinweisschilder von Autovertretungen aller europäischen Marken. Und wen die Werbung am Weg nervt, der hätte die Möglichkeit im nächsten Ort einen Hochdruckreiniger aus deutscher Produktion zu erstehen und alles wegzu-"kärchern".

Gegen 13 Uhr erreiche ich Starogard Gedanski. Linkerhand liegt ein großes Neubaugebiet. Auf einem Rasenplatz toben kleine Mädchen beim Sportunterricht. Die Lehrerin erteilt Befehle im Kommandoton. Die Schule liegt inmitten sechsgeschossiger Wohnblocks. Ein moderner Kirchenbau ragt über die Dächer und demonstriert den Anspruch der katholischen Kirche auf die junge polnische Gesellschaft. Wo entstehen in Deutschland heutzutage neue Kirchen?

Neue Kirche im Neubaugebiet von Starogard Gdanski (Preußisch Stargard)

Um 14 Uhr miete ich mich im Hotel Bacchus ein. Nach kurzer Ruhepause laufe ich ohne Gepäck, nur mit meiner Kamera, wieder los, um die Stadt zu erkunden.

Starogard Gdanski, zu deutscher Zeit Preußisch Stargard, liegt etwa 40 Kilometer südlich von Danzig in der Wojewodschaft Pommern an einem kleinen Fluß namens Ferse. Der Ort hat eine bewegte Geschichte. Bereits vom 8. bis zum 12. Jahrhundert gab es hier eine Burg an Stelle der heutigen Stadt. Erstmals erwähnt eine Urkunde aus dem Jahre 1198 die Feste und ihre Schenkung durch den pommerschen Herzog Grzymislaw an den Johanniterorden. Nach der Eroberung durch den Deutschen Orden im Jahre 1305 entstand 1309 unmittelbar südlich der Burg die Stadt Preußisch Stargard als eine Gründung der Ordensleute. 1466 wurde die Stadt Teil Polens. Knapp 200 Jahre später geriet Starogard während des Zweiten Nordischen Kriegs 1655 für zwei Jahre unter schwedische Herrschaft. Mit der Ersten polnischen Teilung im Jahre 1772 kam die Stadt zu Preußen. Bis 1920 war Preußisch Stargard Kreisstadt im Regierungsbezirk Danzig der preußischen Provinz Westpreußen.

Nach dem Ersten Weltkriege wurde Stargard aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags in die Zweite Polnische Republik eingegliedert. Mit dem Überfall auf Polen nahm die Deutsche Wehrmacht die Stadt am 2. September 1939 Stadt ein. Im Verlauf der Besetzung kamen 7000 Menschen ums Leben. Am 6. März 1945 erreichte die Rote Armee die Stadt. Stargard wurde wieder polnisch. 1950 entschied sich die Stadt für die Namenserweiterung Starogard Gdanski.

Danziger Turm in Starogard Gdanski (Preußisch Stargard)

Fotomotive finde ich viele. Von der mittelalterlichen Stadtbefestigung blieb ein massiger Turm beim Danziger Tor erhalten. Daneben steht ein filigranes Metallkreuz zum Gedenken an die Kommunistische Herrschaft in der Zeit von 1920 bis 1989. Der schlanke Turm der Katharinenkirche im nördöstlichen Bereich des Marktplatzes, das höchste Gebäude der Altstadt, lässt sich am besten hochkant fotografieren.

Starogard Gdanski: Der Palast könnte auch in Florenz stehen

Einige Gassen weiter past die Architektur zu den heute fast südländischen Temperaturen. Mein Blick fällt auf ein Gebäude, das sogar in Florenz Touristen beeindrucken könnte. Das palastartige Anwesen gehörte einst dem Mühlenbesitzer Franz Wiechert. In seiner heutigen Form stammt das Bauwerk vom Ende des 19. Jahrhunderts und umfasst zwei Gebäudeteile. Ein Trakt besteht aus rotem Ziegelstein, sein Einfahrtstor erinnert an altertümliche Triumphbögen. Der zweite Flügel hat eine Frontfassade mit feinem Stuck, zahlreichen Zierelementen und Statuen, die typisch für die Antike waren. Allerdings wirkt das Ensemble renovierungsbedürftig.

Marktplatz von Starogard Gdanski mit Katharinen Kirche

Besonders angetan bin ich vom Marktplatz mit seinen Bürgerhäusern aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Seine quadratische Form geht auf die Zeit des Deutschen Ritterordens zurück. Zwar wurde über die Jahrhunderte vieles zerstört und umgebaut, dennoch weist die Altstadt zahlreiche Spuren mittelalterlicher Architektur auf. Im Zentrum des Platzes steht das 200 Jahre alte Rathaus.

Rathaus von Starogard Gdanski (Preussisch Stargard)

"Gegenwärtig gehört Stargard zu den freundlichsten Städten Pommerellens, hat 1 kath. u. 1. evangel. Kirche, ein in der Mitte des großen viereckigen Marktes 1766 erbautes Rathhaus...", schrieb 1835 der Königl. Waisenhaus- und Seminar-Director zu Königsberg in Preußen, August Eduard Preuß, in seiner "Preußischen Landes- und Volkskunde". Nach meinem kurzen Eindruck hat sich die Stadt ihre Freundlichkeit bewahrt.

Ich setzte mich vor ein Café, um die Atmosspäre des Platzes zu genießen. Ein junger Kellner nimmt meine Bestellung auf. Er ist heute der dritte Pole, der hervorragend deutsch spricht. "Sprechen alle Polen so gut deutsch?", frage ich ihn scherzhaft. Er lächelt und erzählt, dass er in der Schule drei Jahre deutsch gelernt hat und außerdem jedes Jahr seine Tante in Oberstdorf besucht. "Beim Skilaufen lerne ich dann deutsch", sagt er und grinst.

Als ich mich aufstehe, bemerke ich, dass meine Beine schwer geworden sind. Doch ohne Rucksack ist es leicht, den Weg ins Hotel Bacchus zurückzulaufen.

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Carsten Voigt

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