Eine unvergessliche Begegnung mit den Menschen

Professor Heinrich Kupffer über seine Reise in die russische Exklave Kaliningrad, dem ehemaligen Nordostpreußen

Wir kommen über Memel / Klaipeda auf die Kurische Nehrung und fahren zunächst nach Nidden / Nida. Dort hat man sich in letzter Zeit schon voll auf Touristen eingestellt. Die Bernsteinhändler rechnen in Euro, die Speisekarten sind zwei- bis viersprachig. Wir erklimmen die „Große Düne“, wandern am endlosen Strand entlang und machen eine Bootsfahrt über das Haff zum Memeldelta, einer wunderschönen Wald- und Flusslandlandschaft.

Fischerhaus in Nidden / Nida

 

 

 

Die Nehrung ist 100 Kilometer lang, etwa drei Kilometer breit und zu gleichen Teilen zwischen Litauen und Russland aufgeteilt. Wir überschreiten die Grenze und befinden uns nun in der „Kaliningradskaja Oblast“, dem Kaliningrader Gebiet, einer seltsamen Exklave ohne direkte Verbindung zum russischen Mutterland. Um dahin zu kommen, braucht man eine Einladung und ein Visum. Mit einer Reisegesellschaft ist das kein Problem. Aber wir fahren privat in einer kleinen Gruppe mit einer befreundeten russischen Begleiterin.

Sanddüne auf der Kurischen Nehrung

 

 

 

Wir wohnen auch nicht in einer Königsberger Touristenherberge, sondern in einem Dorf nahe Ragnit / Neman. Unsere Wirtin ist mit einem Mitglied unserer Gruppe gut bekannt. Sie betreibt eine kleine „Pension“ mit sechs bis acht Betten und hat im anderen Teil ihres Häuschens einen Tante-Emma-Laden aufgemacht. Dorthin strömen tagtäglich mehr als hundert Dorfbewohner und versorgen sich mit dem Nötigsten.  

Unsere schlichte Unterkunft ist für uns von unschätzbarem Wert. Denn nur so gewinnen wir einen ersten Einblick in die Lebensbedingungen der Bevölkerung und können deren soziales Umfeld beobachten. Wir sprechen mit vielen Menschen, sitzen abends lange beisammen, feiern auch einen Geburtstag mit ihnen und lernen dabei vor allem dreierlei:

Ersten: Fast alle leben in Armut, und dies ist ihr gewohntes Dasein. Aber mit erstaunlicher Kraft bestehen die Menschen ihren täglichen Existenzkampf. Auch wer geregelte Arbeit hat, kann von seinem Unterhalt nicht leben, sondern muss noch irgendetwas anderes machen. Industrie gibt es kaum, denn dies war immer ein Agrarland. Doch seit die sowjetischen Kolchosen weg sind, funktioniert auch die Landwirtschaft nicht mehr. Das heißt aber nicht, dass man sich nach dem vergangenen System zurücksehnt.

Verstepptes Land in der Kaliningradskaja Oblast, ehemals Nordostpreußen: Die Kolchosen sind weg

 

 

 

Zweitens: Aus der Armut folgt, dass jeder auf seine eigene Initiative angewiesen ist. So entwickelt sich eine Art „Unternehmertum von unten“. Man schlägt sich durch, ist wachsam und flexibel, sieht zu, wo es noch ein paar Rubel zu verdienen gibt. Wir sprechen mit einem Bürgermeister, einem Schulleiter, der Direktorin eines Kinderheims. Bei aller inhaltlicher Verschiedenheit dieser Arbeitsfelder geben doch alle drei im Grunde die gleiche Auskunft: Von oben kommt nichts, du musst alles selbst organisieren. Manche scheitern an dieser harten Herausforderung. Die Lebenserwartung ist niedrig, der Konsum von (selbst gemachtem) Wodka hoch. 

Drittens: Weil das so ist, sind die Menschen aufeinander angewiesen. Wer keine „Beziehungen“ hat, ist verloren. In diesem unübersichtlichen Geflecht von Zuständigkeiten und Kompetenzen muss man sich zurechtfinden. Und das funktioniert tatsächlich, wenn auch der Besucher kaum erkennen kann, durch welche Lebensadern hier die Energieströme pulsieren. Was sich dort an größeren oder kleineren „Gefälligkeiten“ abspielt, ist aber, soweit wir sehen konnten, keine organisierte Kriminalität, die vom „normalen“ bürgerlichen Leben abweicht, sondern Merkmal des üblichen Verhandlungsstils.

Interessant ist auch die politische Situation. Ein Teil der Bevölkerung will am Status der Exklave festhalten und wünscht vor allem einen leichteren, unbürokratischen Zugang zu „Groß-Russland“. Andere orientieren sich mehr nach dem Westen und diskutieren darüber, ob die „Oblast“ nicht neben Estland, Lettland und Litauen ein vierter baltischer Staat werden könnte. Doch einstweilen ist mit einer Veränderung nicht zu rechnen.

Ein gutes Beispiel für die hier übliche Mentalität gibt unsere Begegnung mit dem russischen Schulleiter. Er ist dort nach 1945 geboren, spricht Russisch und Deutsch und hat seit vielen Jahren ein „Heimatmuseum“ aufgebaut. Dort sammelt er Zeugnisse und Gegenstände aller Art, deutsche wie russische, also Feldpostbriefe, alte und neue Fotos, Zeitungsausschnitte, Dokumente, Waffen und sonstige Überbleibsel aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Er betont, dass hier seine „Heimat“ sei, und gebraucht diesen Begriff ohne jede Ideologie, ohne jedes Ressentiment, ohne einen Gegensatz von deutschen und russischen Ansprüchen zu betonen. Die Heimat Ostpreußen gehört nach seiner Auffassung allen, die eine Verbindung zu dieser Region haben.  

Natürlich gibt es im Land viel zu sehen. Ich erwähne hier nur vier Stätten, die wir aufgesucht haben:

In Tilsit / Sowjetsk gibt es einmal in der Woche einen riesigen Markt, wo buchstäblich alles angeboten wird: vom verrosteten Bügeleisen bis zum lebenden Kätzchen, von der Zahnbürste bis zur Lederjacke mit Pelz, von der Lesebrille bis zur südrussischen Melone, vom Kochtopf bis zum Gartenzwerg. Das ist etwas anderes als unsere Floh- und Trödelmärkte, denn hier wird (mit wenigen Ausnahmen) kein Liebhabergeschmack bedient, sondern das alltägliche Überlebensbedürfnis.

Königin-Luisen-Brücke in Tilsit / Sowjetsk: Grenzübergang von Kaliningrad nach Litauen

 

 

 

In Georgenburg / Majewka wurde auf einer Fläche von 140 Quadratkilometern ein riesiges Gestüt mit über hundert Pferden aufgebaut. Dieses steht aber nicht in der Nachfolge des früheren Trakehnen, obwohl auch Trakehnerpferde dabei sind. Trakehnen war ein staatliches Gestüt, das ursprünglich der Ausbildung von Militärpferden diente. Georgenburg ist ein international bekannt gewordenes Privatunternehmen für Züchtung, Ausbildung und Verkauf von Renn- und Springpferden. Zur Anlage gehört auch ein Hotel für Pferdefreunde. Dort kostet eine Übernachtung etwa soviel wie das Monatsgehalt des erwähnten Schulleiters.

Pferdegestüt Georgenburg / Maewka

 

 

 

In der früher berühmten Vogelwarte Rossitten / Rybatschij begann seinerzeit die Erforschung der Vogelfluglinien nach dem Süden. Heute arbeitet dort eine Biologische Station der Russischen Akademie der Wissenschaften. Wir bestaunen die mehrere Meter hohen und breiten größten Vogelnetze der Welt, wo Vögel eingefangen, beringt oder mit kleinen Sendern versehen und dann auf ihre Flugroute hin freigelassen werden.

Vogelwarte Rossitten, heute Biologische Station von Ribatschij: Ein Ornithologe befreit gefangene Vögel aus den Netzen

 

 

 

 

Königsberg / Kaliningrad ist das Zentrum des gesamten Gebietes. Das Stadtbild wirkt leider – um es wohlwollend auszudrücken – ziemlich öde. Sehenswert ist vor allem der Dom. Sein Turm ist randvoll als Museum zu Ehren von Immanuel Kant ausgebaut.  Der auch von der jetzigen Bevölkerung uneingeschränkt anerkannt wird. Wir besuchen auch das von der Bundesrepublik finanzierte „Deutsch-Russische Haus“, das den kulturellen Austausch mit Russland pflegt und sich um „Russland-Deutsche“ kümmert, die in den vergangenen Jahren in das Gebiet gezogen sind.

Kant-Büste im Kant-Museum des Königsberger Doms

 

 

 

Als Gesamteindruck bleibt die unvergessliche Begegnung mit Menschen, die unter widrigen Umständen ihr Leben meistern. Sie sind von großer Herzlichkeit, stets gesprächsbereit, mit viel Humor und Selbstironie. Sie entfalten eine enorme Lebenskraft, halten nicht Ausschau nach staatlicher Unterstützung oder nach Hilfe durch Parteien und Gewerkschaften, beklagen sich auch nicht über ihre Misere, sondern nehmen die Lebensbedingungen dieser seltsamen Exklave so hin, wie sie eben sind.

Aus: "leben! in den Stiften der GDA" Heft 2/2005, Zeitschrift der Gemeinschaft Deutsche Altenhilfe, Hannover

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