Familienanschluss in Kaliningrad

Für deutsche Urlauber gibt es eine Spezialbetreuung: Die Gäste kommen ins Ehebett. 

Wenn Leonid mit seinem Kleinbus über Kaliningrads ruinierte Straßen ruckelt, dann ist Lydia in ihrem Element: "Bitte säär, altes deutsches Haus", ruft sie im Vorbeifahren in der ehemaligen Hufenallee, die heute Prospekt Mira heißt. Voll Tatendrang fragt sie ihre Gäste im Auto: "Was wollen sie noch sehen, Bernstein-Museum odärr liebärr Kejnigsberger Dom?"

Hufenallee, heute Prospekt Mira

 

 

 

Leonid Kijaschko und Ehefrau Lydia wohnen in Kaliningrad, in der Stadt, die in deutscher Zeit Königsberg hieß. Die Menschen, die heute in dieser russischen Exklave leben, sind meist arm. Kontinuierlich sank in den letzten Jahren ihr Lebensstandard. Inzwischen beträgt das durchschnittliche Einkommen umgerechnet 150 Mark. Um der Armut zu entrinnen, hat das Ehepaar Kijaschko vor zwei Jahren eine für sie überlebenswichtige Einnahmequelle entdeckt: Es hat sich auf die Rundumbetreuung deutscher Besucher im russischen Teil Ostpreußens spezialisiert.

Seither verlassen Leonid und Lydia immer wieder, wenn Gäste kommen, ihr Ehebett und ziehen in die Küche oder schlafen auf der Wohnzimmer-Couch. Schließlich sollen sich die deutschen Besucher in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung in der Elblonskaja Straße in der Nähe des Hauptbahnhofes wohl fühlen. Mittlerweile haben sie Professionalität entwickelt. Leonid chauffiert das "Taxi", seinen achtsitzigen Nissan-Bus. Er kennt die Kontrahenten der Landstraße, jedes Schlagloch, das tiefer als 20 Zentimeter ist, und jeden fehlenden Gullydeckel

Picknick bei Balga am Frischen Haff

 

 

 

Lydia übernimmt den Part der Reiseleiterin, knüpft Kontakte, übersetzt ins Deutsche und sorgt für das leibliche Wohl. Sie weiß um die vielen Histörchen alter deutscher Gebäude und Straßen. Jeder Besucher hinterlässt ihr eine neue, seine Geschichte. Inzwischen kennt sie fast jede Ortschaft mit deutschem Namen - auch wenn das Dorf nur noch auf vergilbten Landkarten der Vorkriegszeit existiert.

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Bernsteinsammeln bei Balga am Frischen Haff

 

 

 

Ihre Gäste sind meist Menschen, die sich nicht in die Reihe der typischen Pauschalurlauber der Ostreisespezialisten einreihen mögen. Sie wollen sich nicht abschotten vom Alltagsleben der Menschen, die heute das nördliche Ostpreußen bevölkern. Sie suchen Familienanschluss und genießen die Orientierungshilfe in dem ihnen entfremdeten Land, dessen Sprache sie nicht verstehen und dessen Schrift sie nicht lesen können.

"Als ich vor dem Hauseingang stand, dachte ich zunächst, ich bin hier falsch", erzählt Heiner Ameling aus Verl in Westfalen. Der gelernte Metzger und seine Reisegefährtin waren anfangs schockiert von dem gesichtslosen Plattenbau, in dem ihre Gastgeber leben. Vorbei an zerbeulten Briefkästen tasten sie sich durchs düstere Treppenhaus. In banger Erwartung fahren sie mit dem Fahrstuhl in den siebten Stock. 

Der Empfang ist herzlich. Von der Wohnung sind beide angenehm überrascht. Lydia weist ihnen das geräumige Schlafzimmer mit dem Ehebett zu, über das sie eine rosarote Tagesdecke ausgebreitet hat. Als erste Mahlzeit gibt es Borschtsch, die berühmte russische Suppe. Aufgedeckt wird im Wohnzimmer. Auf der Anrichte steht ein Fernsehgerät, daneben eine Stereoanlage. Das Telefon ist verbunden mit einem Faxgerät. Hausherr Leonid lässt gern seine Frau reden, doch die muss in der Küche das Essen zubereiten. Wenn er seine Gäste nicht versteht, ruft er schon mal: "Lydia, bitte übersetzen." Nach dem Essen kommt Lydias obligatorische Frage: "Was wollen sie sehen in Kejnigsberg?"

Kurische Nehrung

 

 

 

Die Kurische Nehrung hat es Herrn Ameling, der zu Hause westfälische Wurst- und Fleischspezialitäten verkauft, angetan. Wunderschönen Aufnahmen von den Dünen zwischen Haff und Ostsee reizten und bewogen ihn zur Kurzreise nach Kaliningrad. Für seine Leidenschaft als Maler und Skulpturen- Bildner erhofft er sich neue Anregungen. Nein, familiäre Wurzeln habe er nicht in Ostpreußen.

Als sie von ihrem Tagesausflug auf die Nehrung zurückkommen, sind Gäste und Gastgeber erschöpft. Sie haben das Museum besichtigt und in der Vogelwarte gelernt, wie die in riesigen Fangnetzen verhedderten Vögel beringt werden. Nach russisch-rustikalem Picknick begeisterte sich der kunstsinnige Fleischer an den von Wind und Sonne gezeichneten Konturen des Dünensands. "Einmalige Gebilde", schwärmt Herr Ameling.

Leonid und Lydia Kijaschko haben aus ihrer Not eine Tugend gemacht. Im Januar 1992 wurde Leonid arbeitslos. Das Forschungsschiff, auf dem der gelernte Ozeanograph seine Studien für seine Doktorarbeit betrieb, lief nicht mehr aus. Geldmangel, wie es hieß. Mit dem Umbau der Sowjetgesellschaft versiegten die Valuta aus der Moskauer Zentrale. Leonids Lebensentwurf war mit 35 Jahren zerstört.

Neun Monate später traf es Ehefrau Lydia. Die Schule, in der sie unterrichtete, konnte die Gehälter nicht mehr aufbringen und musste Lehrpersonal entlassen. Die junge Familie stand vor dem Bankrott. Rosig hatten sie sich ihre Zukunft ausgemalt - schon als Kinder in dem Dorf Nedryhajlow in der Ukraine, wo sie gemeinsam aufwuchsen. Sie hatten in derselben Straße gelebt, dieselbe Schule besucht. In der sozialistischen Gesellschaft schien ihr Lebensweg vorgezeichnet.

Voll Zuversicht reiste Lydia 1977, eine Woche nach ihrer Hochzeit, in den Oblast Kaliningrad, wo Leonid inzwischen studierte. Weil keine Wohnung in Aussicht war, zogen sie in ein Wohnheim. 1979 kam Tochter Larissa zur Welt. Leonid widmete sich seinen Forschungen, reiste nach Angola und Kuba, lernte Acapulco kennen und fuhr durch den Panamakanal. 1984 erwarb die Familie eine Drei-Zimmer-Eigentumswohnung, die sie mit Unterstützung der Eltern bezahlte.

Ein Jahr später kam Gorbatschow an die Macht. Glasnost und Perestroika begannen, am kommunistischen Weltbild zu nagen. Die abrupte Abkehr von der Planwirtschaft entwickelte sich für große Teile der Gesellschaft unerwartet zur ökonomischen Katastrophe. Millionen Menschen - wie das strebsame Ehepaar Kijaschko - verloren durch Arbeitslosigkeit ihre Existenzgrundlage.

Leonid und Lydia nahmen ihr Schicksal in die eigenen Hände. Leonid verdingte sich als Taxifahrer. Lydia ließ sich in einem Crash-Kurs zur Reiseleiterin ausbilden und erweiterte ihre Deutschkenntnisse. Aber die Einnahmen blieben kläglich.

Doch im Sommer 1993 kam die Wende. Ein deutscher Fahrgast riet Leonid, das Taxi fahren auf eigene Rechnung zu betreiben und die kontaktfreudigen Touristen nicht in Hotels abzuliefern, sondern sie auf seine private Übernachtungsmöglichkeit hinzuweisen. Bald darauf besuchte der deutsche Ratgeber als erster Gast die Kijaschkos in deren Privatwohnung.

Leonid und Lydia Kijaschko vor ihrem Siedlungshaus in Arnau / Marjino

 

 

 

Etwa 100 Besucher hat das Kaliningrader Ehepaar seither betreut und zahlreiche Freundschaften geschlossen. Doch sie hoffen, dass noch mehr Deutsche auf sie aufmerksam werden. Denn in Zukunft wollen sie "eine Privatpension, auch mit Familienanschluss, in Arnau betreiben", erzählt Leonid. "Das liegt etwa acht Kilometer von Königsberg entfernt", fügt Lydia hinzu, "wir haben dort altes deutsches Haus gekauft."

Carsten Voigt

Aus: Frankfurter Rundschau, 30.3.1996

Weitere Informationen unter leonid_kiyashko@mail.ru

 

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