"Es war die reine
Hölle"
Als die Deutschen bei
Kriegsende vertrieben waren, kamen russische Siedler nach Ostpreußen.
Jetzt berichten sie, wie es damals war.
Alles war zerstört, die Häuser
beschädigt, auf den Schienen standen total verbogene Waggons, überall
waren Draht-Igel zur Panzerabwehr und Stahlbetonbefestigungen",
erinnert sich der ehemalige Frontkämpfer Jurij Tregub, der mit seinen
Eltern aus dem kasachischen Alma-Ata zuzog. "Als wir in das ehemalige
Ostpreußen einreisten, begann die reine Hölle." Das Land war leer:
Die meisten der 1,2 Millionen Einwohner Nord-Ostpreußens hatten die
Flucht ergriffen, zumal die Kunde vom Massaker der Roten Armee in
Nemmersdorf Horror verhieß.
Verfallenes
Wohnhaus am Königseck in Königsberg Kaliningrad im September 1999
Die
Sowjetregierung ließ das Beuteland neu besiedeln.
Am 27. August 1946 gelangte der erste organisierte Zug aus Brjansk mit
russischen Zuwanderern in das verwaiste Gebiet. 12 024 Familien kamen in
jenem Jahr in die fremde Provinz, 52 906 Personen. Bis 1948 hatten 130 000
Sowjetbürger im nördlichen Ostpreußen eine neue Heimat gefunden
tausende Deutsche, die nicht geflüchtet oder deportiert waren, starben an
Terror, Unterernährung und Seuchen. Die restliche Bevölkerung wurde ab
Oktober 1947 in die sowjetische Zone Deutschlands abgeschoben.
Den meisten neuen russischen Einwohnern
fiel es schwer, sich in den ostpreußischen Städten mit der gotischen
Architektur und zwischen den Backsteinhäusern mit den roten
Ziegeldächern einzuleben. Das Land war "der russischen Seele fremd
und der russischen Wahrnehmung ungewohnt", protokollieren die Autoren
eines Buches, in dem jetzt erstmals russische Zeitzeugen zu Wort kommen*.
Es sind Menschen, schreibt der Herausgeber Eckhard Matthes, "die sich
so über Jahrzehnte nicht äußern durften" und nie zuvor "Gegenstand
individuell-biografischer, historischer oder zeitgeschichtlicher Reflexion
und Darstellung" waren.
Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen
sind in Deutschland amtlich dokumentiert, literarisch verarbeitet und bis
heute wach gehalten. Doch das entvölkerte Land entschwand hinter dem
Eisernen Vorhang. Nur spärlich sickerten Nachrichten über die Herkunft
der Neusiedler und deren Lebensbedingungen aus dem militärischen
Sperrgebiet in den Westen. Erst jetzt, über ein halbes
Jahrhundert später, werden die Schicksale jener bekannt, die damals die
verlassene Region einnahmen.
Ehemalige Albertus Universität am Paradeplatz, heute
Staatliche Kaliningrader Universität an der Universitetskaja.
Autoren des Buchs sind junge russische
Wissenschaftler unter Leitung des Historikers Jurij Kostjaschow von der
Universität Kaliningrad. Sie führten in den Jahren 1990/91 in 51 Orten
des Kaliningrader Gebiets 320 Interviews mit Neusiedlern und zeichneten
sie auf 2500 Seiten auf. In ihrem nun in Deutschland erschienenen Werk
fassen die Forscher die authentischen biografischen Aussagen zusammen. Sie
beschreiben den Verlauf der Neubesiedlung, vom Anwerben der Bevölkerung
bis zum Umzug, Einleben und Wiederaufbau. Ein umfangreiches Kapitel ist
der Beziehung der neuen russischen Einwohner zu den in ihrer Heimat
verbliebenen Deutschen gewidmet. Zusätzlich dokumentieren alte Fotos,
Zeitungsnotizen und Befehle der Gebietsverwaltung die Nachkriegsepisode.
Aus den Berichten der allmählich
aussterbenden Augenzeugen wird deutlich, dass sie bei ihrer Ankunft trotz
der gewaltigen Zerstörungen von Königsberg beeindruckt waren. Anna
Ryschowa, die 1947 als 17-Jährige in die einstige preußische
Krönungsstadt kam, faszinierte die "Mächtigkeit der Gebäude, ihre
Festigkeit und Unbezwingbarkeit". Doch bei Regenwetter, erinnert sie
sich, schlug ihr "die Enge der Straßen auf das Gemüt". Bei ihr
wuchs "eine Empfindung für die zeitliche Begrenzung unserer
Anwesenheit, und wir fühlten, dass wir hier
Fremde sind". Anna Kopylowa befand:
"Noch an den Gebäuderesten konnte man sehen, wie schön die Stadt
vor dem Krieg gewesen war ... Dass hier einst Menschen gelebt haben, die
die Natur, die Schönheit und behagliche Wohnlichkeit schätzten."
Der Neubeginn in dem hinzugewonnenen
westlichsten Territorium der Sowjetunion erschien wie eine Verheißung des
gelobten Landes: Staatliche Werber reisten kreuz und quer durch
Zentralrussland, die Ukraine, Belorussland und Litauen, sie versuchten
Menschen mit allerlei Versprechungen zur Umsiedlung zu bewegen. Mit den in
Aussicht gestellten Privilegien hofften Verzweifelte, der Nachkriegsarmut
zu entrinnen. Familienväter empfingen als Begrüßungsgeld 1000 Rubel
etwa zwei Jahreslöhne sowie 300 Rubel für jedes Familienmitglied und
ein Darlehen von 3000 Rubel oder eine Kuh. Als weitere Starthilfe erhielt
die Sippe kostenlosen Transfer und ein Haus auf dem Land.
Das Leben war äußerst hart. Im
September 1946 wurde die Brotration um 30 Prozent gesenkt und für nicht
arbeitende Familienmitglieder ganz gestrichen. Noch fehlte das
Wohnungsamt, das generell in der Sowjetunion ein Obdach zuwies. Anatolij
Jarzew berichtet, wie er zwischen fünf Wohnungen in fünf verschiedenen
Ortschaften wählen konnte. "In der Ortschaft Dobrino (Nautzken) hat
man uns sofort ein Haus gegeben", erzählt er. "Wenn du in
diesem Haus nicht wohnen willst", hörte er, "such dir in der
nächsten Ortschaft ein anderes."
Nicht überall standen Wohnungen leer. In
einigen Gebäuden hausten Deutsche. Weil die Lehrerin Manefa Schewtschenko
einen langen Arbeitsweg hatte, erhielt sie eine "Einzugsberechtigung
für jedes beliebige Haus im Stadtteil der Schule". Nach langer Suche
fand sie ein "Haus nach unserem Geschmack". Die Verwaltung
forderte die vier deutschen Bewohner auf, innerhalb von 24 Stunden
auszuziehen.
Das Leben auf dem Lande war gefährlich,
der Boden mit Bunkern, Schützengräben,
Blindgängern und Minen durchsetzt. "Wenn wir mähten, dann gingen
wir erst mit dem Rechen durch das Gras, ob nicht irgendwo noch Munition
lag", berichtet Jekaterina Morgunowa. "Die Erde war
fruchtbar", lautet die angenehme Reminiszenz der Larissa Amelina, die
aus dem Gebiet Orjol kam. "Ich habe Halme in Erinnerung, die waren
fingerdick, Tomaten reiften direkt auf den Stauden, die Kohlköpfe waren
riesig, es gab sehr viele Gurken."
Zerstörte
Drainage-Rohre im Mai 1995 bei Bärenfang / Kurganskoje, ehemals Kreis Schlossberg
Beim Pflügen entdeckten die Neusiedler tönerne
Rohre, zogen sie heraus und warfen sie in Brunnen. So zerstörten sie das
Drainage-System, das Ostpreußen seinen Wohlstand beschert hatte. Dämme,
Kanäle, Pumpstationen verrotteten, die einst so ertragreichen Felder der
"Kornkammer des Reichs" versumpften bis heute.
Gleichzeitig mit dem Zuzug der Russen in
das nun nach dem Altbolschewiken Kalinin benannte Gebiet begann die
Aussiedlung der deutschen Bevölkerung. "Sie wollten nicht wegfahren.
Sie standen mit ihren Bündeln an der Haltestelle, warteten
auf die Wagen, einige weinten", beschreibt Galina Roman, damals acht
Jahre alt, den Bevölkerungsaustausch. Der zurückgelassene Besitz
Schränke, Stühle, Tische musste in Schuppen gebracht werden, so
Alexander Puschkarjow aus Slawsk (Heinrichswalde): "Wenn die
Neusiedler kamen, sollten die Möbel für sie bereitstehen. Alles Quatsch,
alles ist kaputtgegangen. Die Straßen waren zerstört, und bis die Möbel
ins Lager kamen, waren nur noch Bretter übrig."
Tatjana Mulinkowa arbeitete in einer
Schneiderei
in Baltijsk (Pillau) mit deutschen Frauen zusammen. Sie erzählt aus dem
Jahre 1948: "Als wir eines Tages zur Arbeit kamen, waren die
Deutschen weg, es war niemand zum Arbeiten da. Innerhalb einer Nacht hatte
man sie abtransportiert wie weggeblasen."
Die Beziehung der Neusiedler zu den
Letzten der angestammten Bevölkerung bleibt eine
"konfliktverdächtige Thematik". Damit mussten die Autoren, so
der Lüneburger Osteuropa-Historiker Matthes, "unweigerlich
Tabugrenzen berühren", die in der Sowjetunion jahrzehntelang nicht
angetastet werden durften. Entsprechend kritisch reagierten russische
Verlage und Behörden bei der Vorlage des Buch-Manuskripts. Noch immer
können Kaliningrader über ihre eigenen Wurzeln in der Landschaft nichts
lesen.
Kant-Sarkophag
am Königsberger Dom im Mai 1995
Aber sie interessieren sich längst für
die historischen Ursprünge sie suchen in den Trümmern nach der
deutschen Vergangenheit. Der Königsberger Dom mit dem Kant-Grab wurde mit
deutschen Spendengeldern wieder aufgebaut, und
die ostpreußische Dichterin Agnes Miegel erlebt eine Renaissance: Sie
beschreibt, so meint Sem Simkin, der russische Herausgeber ihrer Werke,
die Heimat auch der Russen, die dort geboren sind.
Carsten Voigt
*Als Russe in Ostpreußen.
Sowjetische Umsiedler über
ihren Neubeginn in Königsberg / Kaliningrad nach 1945". Edition
Tertium, Hrsg. Eckhard Matthes, Ostfildern 1999; 504 Seiten; 59,80 Mark
Aus: DER SPIEGEL, 22.11.1999, Heft
47/1999
Copyright ©
2000 Ostsicht. Texte und Bilder sind urheberrechtlich geschützt.
Das Verwenden von Texten und Bildern - auch auszugsweise - ist
verboten. Alle Angaben sind ohne Gewähr. |
Home |