Reise in die Vergangenheit Der Königsberger Horst Glaß berichtet über seine zehntägige Fahrt ins nördliche Ostpreußen im Juni 2001 Nach rascher Reise erreicht der Bus die deutsch-polnische Grenze bei Pomellen. Zügig erfolgt die Abfertigung. Weiter geht es in problemloser Fahrt über gut ausgebaute Landstraßen. Am frühen Abend erreichen wir Köslin, wo wir im Hotel "Arka" erschöpft in unserer Betten fallen. Wir, das sind 47 erlebnishungrige Teilnehmer einer Reisegruppe der DNV-Touristik, die unter meiner Leitung am Tag zuvor in Dortmund gestartet war. Bei einem Zwischenstopp in Berlin haben wir noch vier amerikanische Staatsbürger aufgenommen. Ziel unserer Unternehmung: Königsberg in Ostpreußen. Am zweiten Tag erreichen wir Danzig und finden noch genügend Zeit für einen Stadtrundgang. Über Elbing geht es dann weiter am Frischen Haff entlang ins Gebiet von Cadinen. Wir erinnern uns an die berühmte Cadiner Keramik, hergestellt in den von Kaiser Wilhelm II. gegründeten Majolika-Werkstätten. Vorbei geht es am Frauenburger Dom, wo der in Thorn geborene Arzt und Jurist Nikolaus Kopernikus das neue astronomische Weltbild begründete. Kurz nach Braunsberg treffen wir auf den zweiten Grenzkontrollpunkt. Auch hier haben wir Glück. Nach verhältnismäßig kurzer Wartezeit nimmt uns "unsere" russische Begleiterin, Tamara, in Empfang. Zum 28. Mal reise ich jetzt in Nordostpreußen ein. Seit einigen Jahren begleitet Tamara meine Reisegruppen. Sie stammt aus dem Kaukasus. Nach Königsberg hat sie die Liebe verschlagen. Während der Bus auf die Pregelstadt zusteuert, teilt Tamara die Hotelzimmer zu. Einfühlsam stört sie nicht durch all zu viele Erklärungen diejenigen, die das erste Wiedersehen mit der Heimat verarbeiten müssen. Die Erinnerung an das Land der Kindheit und Jugend steigt in vielen empor. Entgegen früheren Reisen erreichen wir Königsberg wegen einer Baustellenumleitung über Nasser Garten und das südliche Hafengelände. Mitten in Königsberg steigen wir aus und quartieren uns im Hotel "Kaliningrad" ein. Trotz anstrengender Fahrt gehen einige Reisemitglieder noch auf Erkundungsgänge und schnuppern Königsberger Luft. Für viele ist es wieder der erste Abend in der alten Heimat, und der Himmel bleibt seltsam hell. Die Zeit der "weißen Nächte" ist in die alte Ordensstadt eingezogen - Johanni steht bevor. Am nächsten Tag brechen wir rechtzeitig zu einer Rundfahrt durch die alte preußische Königsresidenz auf. Unweit vom Hotel "Kaliningrad", kaum einen Steinwurf entfernt, krönte sich der Brandenburgische Kurfürst vor 300 Jahren eigenhändig zum König in Preußen. Heute sehen wir an der Stelle des alten Schlosses eine kahle Betonfläche mit einer häßlichen Bauruine aus sowjetischer Zeit. Das sogenannte "Rätehaus", geplant als Zeichen von Macht und Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftssystems, symbolisiert heute den Niedergang desselben. Am folgenden Tag starten wir zur Reise nach Tilsit. Als erste größere Ortschaft durchfahren wir Tapiau, die Geburtsstadt der berühmten Maler Lovis Corinth und Ernst Mollenhauer. Danach treffen wir in Insterburg ein, wo die Erinnerung an das Ännchen von Tharau lebendig wird. An der Stelle ihrer vermeintlich letzten Ruhestätte singen wir das Jahrhunderte alte unvergängliche Volkslied. In Tilsit stärken wir uns mit einem schmackhaften Mittagsmal im einstigen Domizil der Deutschen Bank. Voller Spannung wandern wir die Hohe Straße in Richtung Königin-Luisen-Brücke hinab. Bei unserem Spaziergang erinnern uns zahlreiche alte Gebäude an die Vergangenheit der Memelstadt. Wie früher grüßt ein steinerner Ordensritter von der Front eines stuckverzierten Hauses. Harmlos sieht er aus. Dem Gottesstreiter ist das Schwert entwendet worden. Vorbei am Geburtshaus des ostpreußischen Freiheitsdichters Max von Schenkendorf gelangen wir an die Memel, die hier die Landschaft prägt. An der Königin-Luisen-Brücke ist Gelegenheit zum Fotografieren, und hier erfahren wir von Plänen, die vorsehen, die Brücke original getreu zu restaurieren. Vorbei am Geburtshaus des ostpreußischen Freiheitsdichters Max von Schenkendorf gelangen wir an die Memel, die hier die Landschaft prägt. An der Königin-Luisen-Brücke ist Gelegenheit zum Fotografieren, und hier erfahren wir von Plänen, die vorsehen, die Brücke original getreu zu restaurieren. Störend empfinden wir die russische Grenzstation am Südufer des Flusses. Gegenüber ist ein Gedenkstein zu erkennen, der in den neunziger Jahren zur Erinnerung an den Tilsiter Frieden von 1807 aufgestellt wurde. Ein kleiner Lichtblick. Als wir wieder im Bus sitzen, wird der Weg bedrückend. Wir blicken auf die Elchniederung. Vor gut einem halben Jahrhundert gab es hier noch endlose Gemüsefelder. Heute ist die Landwirtschaft eingestellt. Das Gebiet versumpft und verwildert. Über Labiau kehren wir voll zwiespältiger Eindrücke ins Hotel zurück. Eine weitere "weiße Nacht" und trübes Wetter bedrängen unsere Gedanken. Der nächste Tag ist den Teilnehmern zur freien Gestaltung überlassen. Ich spüre, dass die Gruppe inzwischen zu einer Gemeinschaft verwachsen ist. Auch die vier Amerikaner, die die Heimat ihrer 1929 ausgewanderten Mutter kennen lernen wollen, fügen sich gut ein. Jeder von uns ist auf einer sehr persönlichen Suche nach dem Treffpunkt von Gegenwart und Vergangenheit. Ziel des nächsten Tages ist die Kurische Nehrung. Sehr früh geht es in Königsberg los. Auf der Fahrt erinnern wir uns an die Vergangenheit des Landes. Im Rudauer Gebiet etwa an den Schumachersohn Hans Sagan vom Königsberger Kneiphof, der die Ordensfahne ergriffen und das Heer zum Sieg gegen eine Streitmacht der Litauer geführt haben soll, oder an die um 1900 im Samländischen von Emil Wiechert erbaute Erdbebenwarte, die als eine der ersten seismologischen Messstationen der Welt gilt. Gleich hinter Cranz halten wir an der Kontrollstelle zum Schutzgebiet Kurische Nehrung und fahren dann ein in das Wunderland der Natur zwischen Ostsee und Haff. In Sarkau passieren wir die schmalste Stelle des knapp 100 Kilometer langen Landstreifens, der im Norden in Sandkrug gegenüber von Memel endet. Auf der Fahrt zum Museum Kurische Nehrung schauen wir gespannt aus dem Bus, um eventuell Elche, die wieder auf der Nehrung heimisch geworden sind, zu entdecken. Im Museum, dass die Geschichte der Nehrung und ihrer Bewohner mit eindrucksvollen Exponaten belegt, erfahren wir auch etwas über Arbeit und Leben des "Vogelprofessors" Johannes Thienemann, der auf der Nehrung vor genau 100 Jahren die erste Vogelwarte der Welt in Rossitten gründete. Seit einiger Zeit steht im Museumsbereich auch ein Gedenkstein zur Erinnerung an den ostpreußischen Fluglehrer Ferdinand Schulz, der von deutschen und russischen Segelfliegern aufgestellt wurde. Nach einem kurzen Stopp an der Vogelfangstation Fringilla, wo Wissenschaftler der Petersburger Universität Thienemanns Arbeit fortsetzen, erreichen wir Rossitten. Die Rossitter Kirche ist restauriert und heute ein russisch-orthodoxes Gotteshaus. Erstaunt und freudig nehmen wir ein Gedenkkreuz zur Kenntnis, das an der Kirche aufgestellt worden ist. Ein Inschrift erinnert an die einstigen Bewohner des Fischerorts. Nach einem guten Mittagessen besteigen wir bei Pillkoppen die "Hohe Düne". Es ist ein beschwerlicher Aufstieg, doch wir werden belohnt mit einem wunderschönen Blick auf das Kurische Haff und auf die Ostsee, die, ohne den Standpunkt zu wechseln, an ihren weißen Schaumkronen zu erkennen ist. Agnes Miegels unvergessliche Ballade "Die Frauen von Nidden" kommt uns in den Sinn. Sie berichtet von einer Zeit, zu der noch Wanderdünen die Häuser unter sich begruben und Pest und andere Seuchen Leib und Leben der Nehrungsmenschen bedrohten. Am Abend reisen wir nicht nach Königsberg zurück. Wir wechseln unsere Unterkunft und ziehen nach Rauschen an die Samlandküste. Heute ist dieser Badeort wieder ein beliebtes Ausflugsziel. Bei der Ankunft wird die Reisegruppe auf zwei Hotels verteilt. Die Trennung stört aber nicht unser Zusammengehörigkeitsgefühl. Am nächsten Tag unser Heimatexkursion spielt das Wetter so richtig mit. Es ist Sommeranfang und für uns gilt das Motto: "Pünktlich zum Johannistag, heute uns die Sonne lacht". Ein Besuch der samländischen Orte Pillau und Palmnicken steht auf dem Programm. Nach einem kleine Stadtrundgang in Pillau gehen wir an den Strand zum Bernsteinsuchen – und tatsächlich, einige von uns sind erfolgreich und halten voller Stolz die Hand mit kleinen Stückchen des "ostpreußischen Goldes" ihren Gefährten entgegen. In Pillau wird aber auch die Erinnerung an die Flucht im Frühjahr 1945 wieder wach, als hier Tausende von Ostpreußen Abschied von ihrer Heimat nehmen mussten und in Todesangst versuchten, ein Schiff zu erreichen, das sie heil, aber in eine ungewisse Zukunft bringen sollte. Betroffen besuchen wir einen kürzlich angelegten Friedhof für die Toten jener Zeit. Nach einem Zwischenstopp an der 1995 angelegten Gedächtnisstätte für deutsche und russische Gefallene in Germau geht unsere Fahrt dann schweigsam zum Bernsteinort nach Palmnicken weiter. Bei unserem Eintreffen in Palmnicken ruht in der riesigen Abbaugrube die Produktion, deswegen besuchen wir eine kleinere Förderanlage. Über neunzig Prozent der Weltbernsteinförderung stammt aus dieser Gegend. An der alten Felssteinkirche, heute ein russisch-orthoxes Gotteshaus, überrascht uns zum Abschluss ein von Tamara engagierter kleiner Frauenchor mit einigen Liedern. Der letzte Tag in Rauschen bringt noch einmal Gelegenheit, das Tagesprogramm in eigener Regie zu gestalten. Bei vielen Reiseteilnehmern ist das Bernsteinsammelfieber ausgebrochen. Den Blick fest auf den Ostseesand geheftet, entspannen sie sich bei der Suche nach den kleinen gelbbraunen Bröckchen am Strand. Den letzten Abend in Ostpreußen gestalten uns junge Russen mit einer Folklore-Darbietung. Es regnet, als wir die Rückfahrt antreten. Tamara, unsere hilfreiche Reisebegleiterin, verabschiedet sich an der Grenzstation zwischen Heiligenbeil und Braunsberg. Ein letztes Dankeschön rufen wir ihr zu, als sich der Schlagbaum zur Weiterfahrt des Busses hebt. "Auf Wiedersehen Königsberg", sagen einige der Reiseteilnehmer im Stillen. "Adieu", flüstern leise diejenigen, die wissen, dass es für sie die letzte Reise in die Vergangenheit war.
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