Warten auf Gäste in Gilge

Gilge, einst das schönste Fischerdorf am Kurischen Haff, hofft auf Besucher

Unbeschadet passiert der Kleinbus die aus alten Pontons und rostigen Blechtonnen zusammengeflickte Behelfsbrücke. Leonid stellt seinen Wagen ab und geht zu den russischen Fischern, die ihre Boote an der Mole vertäut haben. "Habt ihr Fisch?", ruft er hinüber. Die zerzausten Gestalten winken ab und palavern weiter.

Fischkutter neben der Behelfsbrücke über den Nemonienstrom

 

 

 

Leonid kehrt zum Auto zurück, kramt hinter dem Fahrersitz, zieht zwei Flaschen Wodka hervor und klemmt sie sich unter den Arm. Jetzt wird er johlend empfangen. Ein rundgesichtiger Seebär mit blondem Wuschelschopf verschwindet im Boot. Mit einer Plastiktüte, gefüllt mit Brassen, schwankt er aus der Kombüse und reicht sie grinsend Leonid über die Reling.

Immer wenn Leonid seine Fahrgäste von Kaliningrad aus ans Kurische Haff fährt, besorgt er Fisch. Er ist hier günstiger und frischer als in der Stadt. Leonid kennt die Fischer. "Mit Rubel kann man bei denen nichts werden, die wollen nur Flüssig-Währung" grummelt er unwirsch.

Gilge / Matrossowo am Kurischen Haff

 

 

 

Unser Ziel im russischen Teil Ostpreußens ist das 500 Jahre alte Kirchdorf Gilge, einst das "größte und gewiß schönste Fischerdorf am Kurischen Haff", wie ein alter Reiseführer über Ostpreußen schwärmt. Gilge liegt an dem gleichnamigen Fluss, der den Ort in zwei Hälften teilt. Der Strom ist Teil des Memeldeltas, einem eng geknüpften Netz von Wasseradern, das zum ehemals größten Naturschutzgebiet Deutschlands, der Elchniederung, gehörte. Heute heißt der Ort Matrossowo, Matrosendorf.

Helden der Arbeit vor das Dorf verbannt

 

 

 

Die letzten vier Kilometer rumpelt der Wagen über das ramponierte Kopfsteinpflaster einer schnurgeraden Birkenallee. Seit Ortgründung  ist es der einzige Landweg, über den man den Flecken erreichen kann. Plötzlich tauchen hinter einem Dickicht zwei düstere, ineinander verschlungene Gestalten auf. Erst auf den zweiten Blick ist erkennbar: Da verrotten aus grauem Gips und Pappmaché geformte Helden der Arbeit. Farbe blättert von ihren hohlen Körpern. Ein Arm fehlt. Die Dorfbewohner haben den Torso aus der Zeit des realen Sozialismus aus dem Dorf vertrieben.

Weg in Gilge / Matrossowo mit  alten Wirtschaftsgebäuden

 

 

 

Der Weg durch Gilge ist eine Reise in die Vergangenheit. Wie ehedem reihen sich  hölzernen Fischerhäuser und  Wirtschaftsgebäude aus rotem Backstein beidseitig des Flusses malerisch aneinander. Doch sichtbar hat die Zeit an ihrem Antlitz genagt. Schlinggewächse greifen wie Krakenarme um die verlassenen Häusern, die einst gepflegten Gärten sind verwildert. Die Fähre hat ihren Dienst eingestellt. An windschiefen Pfählen und Stegen dümpeln morsche Ruderboote - die einzigen Verkehrsmittel, um über den 80 Meter breiten Fluss zum Nachbarn zu gelangen. Die legendären Kurenkähne auf dem gemächlich dahin fließenden Strom sind seit langem verschwunden. Morbider Charme überdeckt die Armut, die unter den 400 russischen Dorfbewohnern verbreitet ist.

Leonid hält vor einem massiven, doppelstöckigen Steinhaus. Frische olivgrüne Tünche, neue Fenster und eine massive Haustür heben das Gebäude von den verwitterten Holzhäusern des Ortes ab. Neben dem Eingang befindet sich ein Schild mit der Aufschrift "Café Ehrlich". Aus der Tür tritt eine große, kräftige Frau im blauen Trainingsanzug. Ihre blonden Haare bändigt ein Kopftuch. Freundlich grüßt sie auf Deutsch mit schwäbischem Akzent. "Guten Tag, ich bin die Leni Ehrlich, kommscht ‘nei, mir san grad am esse."

Leni Ehrlich ist Russlanddeutsche, eine von rund 15.000, die im Oblast Kaliningrad, im nördlichen Ostpreußen, leben. Anfang der neunziger Jahre verließ sie ihre Dorf in Kasachstan. Als die sowjetische Republik ihre Unabhängigkeit erhielt, fühlte sie sich von einem aufkeimenden aggressiven Nationalismus bedroht. Wie viele Russlanddeutsche wollte sie zunächst in die Bundesrepublik, doch nach einem Besuch bei ihrem Onkel in der Nähe Stuttgarts musste sie feststellen, "dass wir ein anderes Herz, eine andere Kultur haben" und die Menschen in Deutschland "kälter sind und nur an sich denken". Sie entschied sich, in die westlichste Ecke Russlands zu ziehen, ins ehemalige Ostpreußen, denn sie spürte, "mein Herz ist russisch, mein Kopf deutsch".

Leni Ehrlich mit ihrer jüngsten Tochter im Jahr 1995

 

 

 

Freunde vermittelten Leni und ihrer Familie eine Wohnung in Gilge am Kurischen Haff. Doch die war Leni bald zu klein. Sie wollte ein großes Haus, eines, in dem auch ihre Eltern und ihr Bruder mit Frau und Kindern leben könnten. Von ihren kargen Ersparnissen kaufte sie ein halbverfallenes Steinhaus mit der Absicht daraus ein Hotel zu machen, "für deutsche Gäste, mit einem Café für Deutsche, die wo Kuchen esse und Kaffee trinke und keinen Schnaps". Gilge, so stellt sie fest, ist wunderschön, und "nu dürfe die Deutsche ja auch wieder komme".

Was Leni nicht wusste: Ihre neue Heimat war schon vor dem Krieg ein beliebter Ausflugsort. Girlandengeschmückte Boote mit Musik und Komfort an Bord brachten in den Sommermonaten Ausflügler in das Dorf an der Gilgemündung. In den kalten ostpreußischen Wintern konnten die Besucher Eissegeln und Schlittschuhlaufen. Die vier Gilger Wirtshäuser waren bekannt für ihre vorzüglichen Fischgerichte. Allein beim Aal konnte der Gast zwischen Räucheraal, Spickaal, Brataal, Aal in Dill oder in Gelee wählen. 1942, als nur noch wenige Menschen an unbeschwerte Ferien denken konnten, wurde Gilge offiziell zum Fremdenverkehrsort erklärt.

Gegenüber von Lenis Hotel, auf der anderen Flussseite, befand sich das Gasthaus von Kurt Adomeit - die Attraktion im Ort. Das so genannte Elchzimmer des Amtskrugs zierten Felle und Geweihe von Schaufel- und Stangenelchen. Hier unterhielt der Wirt, ein passionierter Jäger, Fremde und Freunde mit seinem Jägerlatein. Nebenan, im Fischerzimmer, leuchteten rote und grüne Positionslampen den Raum aus. An einem Tisch, den die Dorfbewohner Stinttonne nannten, schenkte der Wirt nur roten und weißen Köhm aus. Je nach Schnapsfarbe konnte der spendable Gast eine Runde Back- oder eine Runde Steuerbord ordern.

Das Gasthaus von Kurt Adomeit dient als Steinbruch

 

 

 

Es dauerte nicht lange, da warfen auch prominente Vertreter des Dritten Reichs ein Auge auf die ausgefallene Schenke. Nicht weit entfernt, in der Elchniederung, hatte Hermann Göring eines seiner Jagdreviere. Nachdem der dicke Luftmarschall mit seinem Gefolge in Gilge zu Gast gewesen war, wollte er die Raumausstattung des Wirtshauses kaufen. Doch seine Emissäre mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen: Der Wirt erklärte, die Dekoration sei unverkäuflich. Heute ist Kurt Adomeits Wirtshaus verfallen und die Ruine und dient als Steinbruch.

Leni Ehrlichs Haus im Jahr 1995

 

 

 

Auch Leni Ehrlichs Haus war, als sie es erwarb, eine Ruine - ohne Dach,  Türen und Fenster, mit verrotteten Strom- und Wasserleitungen - von Zimmereinrichtung keine Spur. "Die Leut’ haben g’meint, ich sei nicht ganz richtig im Kopf", erinnert sie sich. Eigenhändig mauerte und verputzte die tatkräftige Frau gemeinsam mit ihrem russischen Mann neue Wände, verlegte Leitungen und deckte mit zusammengeklaubten Ziegeln das Dach wieder ein. Mit finanzieller Unterstützung aus Deutschland organisierte sie neue Fenster und Türen. Stolz empfing Leni Ehrlich im Sommer 1993 ihre ersten Gäste aus der Bundesrepublik.

Lenis Mann fuhr jedoch weiterhin zum Fischen aufs Haff. Er war kein Hotelier. Das Fischereihandwerk hatte ihm der alte Iwan Kotscherjagin beigebracht. Der wiederum hatte es von den Deutschen gelernt. Der Kapitän im Ruhestand war der einzige in Matrossowo, der noch mit deutschen Fischern aufs Haff gesegelt war. Denn als Kotscherjagin 1946 nach Gilge kam, hatten noch  nicht alle Haffleute ihre Heimat verlassen.

Als erstes richteten die russischen Neusiedler in Gilge ein Fischereikombinat ein. Die zurückgebliebenen deutschen Fischer mussten für die neue Genossenschaft mit ihren alten Keitelkähnen, den großen Segelbooten mit dem flachen Rumpf, wieder aufs Haff hinausfahren. Sie lehrten den neuen Bewohnern ihr Handwerk. Doch das Fischen auf  dem kabbeligen Wasser fiel  den Russen, Ukrainern und Tataren schwer. Das Leben mit der See war für sie ungewohnt. Viele kannten nur die Steppe.

Iwan Kotscherjagin fischte zusammen mit den Deutschen auf dem Kurischen Haff 

 

 

 

 

 

"Die Deutschen haben uns beigebracht, wie man mit dem Kahn ins Haff segelt und wo es die besten Fanggründe für Brassen und Zander gibt", erzählt der Alte, der seine Sprachkenntnisse nach 50 Jahren mühselig wieder hervorkramt. Dann mussten die letzten Haffleute ihre Heimat verlassen. "Früher gutes Zeit, heute schlecht", sagt er, und Tränen stehen ihm in den Augen, als er sich erinnert.

Bis zum Untergang der Sowjetunion gab es viel Arbeit, nun ist das Fischereikombinat schon lange Pleite.  Leni Ehrlich  hofft weiter auf ihre deutschen Gäste, schließlich muß sie ja für den Lebensunterhalt ihrer vielköpfigen Familie aufkommen. Nach Deutschland will sie immer noch nicht. Denn in Gilge "kann ich ein Haus besitzen, eines was mir gehört, weischt?"

Carsten Voigt

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