"Sieh mal nach, ob noch Krieg ist!" Siegfried Binsch schildert seine Überlebensstrategie als Halbwüchsiger im zerstörten Königsberg in den Jahren 1945 bis 1948. Es herrschte bedrückende Ruhe in Königsberg. Die Front war im März 1945 vom Stadtteil Hufen nur wenige Kilometer entfernt, aber wir bemerkten sie kaum. Gewiss, wir hörten Maschinengewehrfeuer, es heulte auch eine Granate. Doch viel passierte nicht. Nur die Flugzeuge - vor denen mussten wir uns hüten. Sie waren allgegenwärtig und schossen auf alles was sich bewegte.Zehntausende hatten Königsberg noch verlassen können. Auf die Straße gingen die Daheim gebliebenen nur, um die wichtigsten Dinge zu erledigen. Strom, Wasser und Gas gab es - wenn ich mich recht erinnere, auch Lebensmittelkarten. Ja, ich bekam sogar per Post die Aufforderung, mich zum Antritt meiner Ausbildung an der Kadettenschule Feldafing am Starnberger See zu melden! Ich war 16 Jahre alt als ich zum Volkssturm geholt wurde. Wir mussten allerhand Dienste verrichten, auch mal mit der Post im Dunkeln zur Hauptkampflinie schleichen. Für mich war das mehr Abenteuer. Nein, richtiger Krieg, fand ich, war das nicht. Mitte März gab es Aufregung, weil Frauen und Kinder evakuiert wurden. Meine Mutter kam nach Rauschen. Ich musste vorerst noch in der Stadt bleiben.Das Kriegsende erlebten wir dann gemeinsam in Rauschen. Wir saßen im Keller. Es wurde auf einmal so eigenartig still. Die Leute sagten zu mir: "Sieh doch mal nach, ob noch Krieg ist." Vorsichtig spähte ich durch einen Türspalt. Auf der Straße standen Russen. Sie teilten Kriegsbeute unter sich auf – es waren Uhren. Wir machten uns auf den Rückweg nach Königsberg. Ein mehrtägiger Leidensweg begann. Er gehört zu meinen fürchterlichsten Erlebnissen. Verängstigte Menschen, Scharen von Russen, Tote auf Feldern und Straßen. Am schlimmsten war es in den Nächten. Zum Schlafen suchten wir Scheunen auf. Die Schreie der Frauen, Schüsse, Flüche der Russen, die mit Taschenlampen durch die Menschen- massen trampelten, das Weinen hungernder Kinder, ihre Angstschreie, wenn die Mutter herausgezerrt wurden - es war entsetzlich.Das ist nun über 50 Jahre her, und ich hatte geglaubt, Abstand von diesen Geschehnissen gewonnen zu haben. Unlängst kam mir das Buch von Leonie Ossowski "Herrn Rudolfs Vermächtnis" in die Hand. Es handelt von Menschenschicksalen in Ostpreußen im Frühjahr 1945. Plötzlich war alles wieder da! Im Innersten aufgewühlt fand ich keinen Schlaf. Ich hatte Angst vor dem Weiterlesen. Königsberg werden wir wohl so um den 20. April erreicht haben. Unser Wohngebiet zwischen Hindenburgstraße und General-Litzmann-Straße, ehemals Fuchsberger Allee, war niedergebrannt. Wir suchten uns einen Keller, der noch bewohnbar war. Wir waren vielleicht zehn Leute, vor allem Frauen, aber auch Kinder. Alle waren völlig erschöpft. Zuerst aber galt es, noch vorhandene Türen zu versperren, dann sanken wir auf die zusammengetragenen Decken und Lumpen.Jetzt ging es aber um Wasser und etwas Essbares. Beim Stöbern im Keller und in halb ausgebrannten Wohnungen war allerhand zu finden. Aber es reichte nicht hin und nicht her. Ich musste mich auf den Weg machen, wer sollte sonst gehen. Es war kein fröhlicher Gang - die Straßen voller Leichen, menschenleer, immer auf der Hut vor russischen Soldaten. An der Straßenecke Flottwellstraße/Hindenburgstraße stand noch die runde Sparkasse. Sie war aufgebrochen. Das Geld lag auf der Straße. Ich hätte mir Tausende in die Tasche stecken können. Ich tat es nicht. Es war wertlos gewordenes Geld einer zusammengebrochenen Welt. Am Friedrich-Wilhelm-Platz stieß ich auf reges Treiben. Die Russen sangen, reinigten ihre Waffen, wuschen Wäsche und sausten mit Fahrrädern - manche ohne Bereifung - um die Ecken. Feine Herrenzimmerschreibtische standen auf der Straße. Offiziere schrieben darauf ihre Befehle. Die Wachposten saßen in Lehnsesseln unter Sonnenschirmen und tranken Wein aus den Kellern gut situierter Bürger. Die Sieger übten sich in der Gestaltung des Friedens.Duft aus Gulaschkanonen lag in der Luft. Ich überwand meine Angst und ging dem Geruch nach. Ja, und hier zeigte sich das andere Gesicht der Russen. "Fritz komm. Essen. Mama und Kinder auch." Satt und versorgt mit Suppe und Brot zog ich heim und kam natürlich wieder. Am dritten Tag meinte ein Offizier, dass ich eigentlich auch arbeiten könne. Na ja, da war ich eben Dachdecker. So kamen wir über die erste Zeit. Es war Sommer. Wir fanden Essbares auf Feldern, in verlassenen Gärten und halbzerstörten Gebäuden. Wir "angelten" Fisch mit Handgranaten und suchten Muscheln.Im Juli reiste ich mit Soldaten zum Ernteeinsatz nach Insterburg. Das herangereifte Getreide von den Gütern und Bauernhöfen musste eingebracht werden. Es war eine gewaltige Ernte, aber für uns eine schwere Arbeit. Das Getreide lagerten wir in Scheunen auf den Höfen ein und ab September wurde gedroschen. Ich habe mich dabei ziemlich wohl gefühlt. Was für mich galt, war die gemeinsame Arbeit. Im Dezember ging es zurück nach Königsberg. In unserem Keller fand ich niemanden mehr vor. Ich erfuhr, daß meine Mutter verstorben war. Jemand hatte sie hinter irgendwelchen Häusern vergraben. Was nun? Mutterseelenallein stand ich in einer Welt von Trostlosigkeit. Keine Unterkunft, nichts zu essen. Meine Erinnerung an diese Tage ist unvollständig. Ich war wohl sehr verstört.Ich fand bei einem Mann Aufnahme, der mich für sein Geschäft brauchte. Sein "Geschäft" war eine Bretterbude am Münchenhofplatz. Dorthin zogen mein Kumpel und ich jeden Tag von den Hufen und verkauften etwas zum Essen und zum Trinken. In der Früh mußte ich los mit einem alten Motorradanhänger der Wehrmacht mit Eisenrädern. Eine dröhnende Fahrt durch die Trümmerwüste. An der über den Pregel führenden Holzbrücke am Münchenhofplatz lagen zerstörte Ruderboote im Wasser. Traurige Erinnerungen an schöne Tage beim Ruderclub Germania. Dann bekam ich Typhus. Vier Wochen rang ich mit dem Leben. Aber ich kam durch. Mein Kumpel nicht. Er starb im Nebenbett.Im Spätherbst machte ich mich dann "selbständig". Genauer gesagt: Der Mann, für den ich Geschäfte machte, schmiss mich raus da ich ohne sein Wissen Zigaretten verkauft hatte. Inzwischen hatte ich aber die nötige Erfahrung als Schwarzmarkthändler erworben. Ich trieb mich in der Schleiermacherstraße bei der Taubstummenanstalt herum. Doch meistens stand ich mit meinen Zigarettenpäckchen am Markt und animierte die Leute zum Kauf. Es galt manchmal auch einen fetten Brocken, etwa einen "organisierten" Sack Mehl an den Mann zu bringen. Wir kannten alle Schliche. Der Handel lief nicht schlecht. Ich konnte davon leben. Ich musste aber auch zum Lebensunterhalt der Leute beitragen, bei denen ich jetzt wohnte, draußen am Kohlhof vor der Stadt. Es kam der Winter 1946/47. Ich weiß nicht, wie ich ihn überstanden habe. Bei 20 Grad Minus stand ich da mit meinen Zigaretten und keiner kaufte. 35 Rubel - die Zahl hat sich bei mir eingegraben - musste ich am Tag verdienen. Mit der davon erworbenen Gerste und den Kartoffeln sicherten wir unsere Existenz. Ich sah zwar das Treiben und das Elend um mich herum, habe es aber nicht bewusst aufgenommen, weil ich durch meinem eigenen Überlebenskampf voll gefordert war.Mit den ersten warmen Tagen im Frühjahr 1947 schöpften wir zurückgebliebenen Deutschen wieder Hoffnung, zumal es massive Gerüchte über eine Aussiedlung gab. Dabei wussten wir überhaupt nichts über die Lage in Deutschland. Unsere Unwissenheit äußerte sich in der Vorstellung, nach unserer Rückkehr erst einmal zehn Brötchen und einen Riegel Pommersch kaufen zu können. Mit dem Tauwetter begann auch mein kleiner Handel wieder zu florieren. Ich konnte mir sogar eine neue Hose kaufen. Was wollte ich mehr! Wir kleinen Schwarzmarkthändler spürten einen Ruck im Geschäft. Die Leute kauften wieder, reagierten auf unsere Anpreisung: schwarze und braune Schuhcreme, Mausefallen, Rattenfallen und als Spitzenartikel - wie alles auch in russisch ausgerufen - Palto, Kalzo (Mantel, Ring).Viele Tage standen wir auch in riesigen Warteschlangen - ich glaube vor der Mädchengewerbeschule - in der Hoffnung Ausreisedokumente zu erhalten. Die meisten Deutschen durften fahren, auch meine Wohngemeinschaft. Ich nicht. Die Russen wollten wohl weiter von meinen schwarzhändlerischen Fähigkeiten profitieren. Ich zog mit Tante Brehm, einer älteren Frau, aus der Flottwellstraße zusammen. Sie verkaufte auf ihrem Marktstand Mehl, Zucker, Erbsen und andere Lebensmittel. Der Markt war mein Lebensbereich. Markt und Wohnung – darüber hinaus gab es für mich nichts. Das war der Rahmen meines Lebenserhalts. Ich bekam gerade noch so mit, dass in der General-Litzmann-Straße wieder die Straßenbahn fuhr. Richtig interessiert hat es mich aber nicht. Zu viele Katastrophen stürzten auf mich nieder.Einmal versprach mir einer für 400 Rubel einen Platz auf einem Schiff nach Deutschland. Gut die Hälfte meines Betriebskapitals nahm er mir als Anzahlung ab. Gesehen hab ich ihn nie wieder. Die Enttäuschung war niederschmetternd. Meine neue Hose, die ich mir auf dem Markt gekauft hatte, hätte mich fast nach Sibirien gebracht. Was ich nicht wusste: Die Hose stammte aus einem Raub. Eines Tages ging unvermittelt eine Russin auf mich los und kreischte: "Das ist der Dieb. Der hat die Hose gestohlen." Die Miliz nahm mich fest, es drohten mir zehn Jahre Lagerhaft.Das war haarscharf am Abgrund vorbei. Ja, so war das. Es war immer etwas los. Um zu überleben musste ich mitmischen, rein mit den Fingern in den Zigarettenkoffer des Großhändlers, wenn er es nicht sah, falsche Bezahlung und andere kleine Gaunereien. Sonst wäre es aus, ich wäre untergegangen. Es galten Normen, die ich nicht in meiner behüteten Kindheit und auch nicht auf meiner so geliebten Burgschule erfahren hatte. Eigentlich hatte ich ein gutes Verhältnis zur Miliz, ich war ja Spekulant, zählte also zur Schwarzmarktoberschicht. Für eine Schachtel Zigaretten für die Herren gab‘s schon mal als Gegenleistung eine Information über eine bevorstehenden Razzia. Wer Arbeitskräfte brauchte, der einigte sich mit der Miliz, die ließ dann den Markt hochgehen und packte ihre LKW's voll Leute. So wurden im Handumdrehen Arbeitskräfte rekrutiert. Obwohl ich eigentlich immer Bescheid wusste über das was läuft, tappte ich aber doch irgendwann in die Falle. Schnell wollte ich noch zu Tante Brehms Markstand hin, denn die hatte keinen Ahnung - da kriegten sie mich. Ab ging es in die Umgebung von Insterburg.Es war Anfang August 1947, als ich dort ankam. Ich hatte nur das berühmte Hemd über dem Hintern, eine Sommerhose und schicke Halbschuhe. Mit dieser "Arbeitskleidung" ging es auf die Landarbeit los. Wenn ich geahnte hätte, was da bis zum April 1948 noch auf mich zukommen sollte, wäre ich vielleicht abgehauen. Aber wo sollte ich hin? Wir arbeiteten auf einem ehemaligen Staatsgut - mit großen Ställen und moderner Technik. Während des Krieges war da in der Nähe ein großer Flugplatz gewesen. Ein alter Bauer, der mit seiner Familie zurückgeblieben war, sprach von 5000 Morgen Land. Ich wurde zur Beaufsichtigung einer Rinderherde mit etwa 350 Stück Vieh zugeteilt. Jetzt, im Frühherbst war das ein prima Posten. Die Herde war draußen. Ich fuhr die Milch zur Molkerei. Milchkutscher - das war eine priviligierte Stellung. Auf dem Wagen Milchkannen und flotte Melkerinnen. Na ja, man stand früh auf. Aber es war kein schlechtes Leben. Milch so viel ich wollte und keinen Hunger mehr.
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Ja, und dann kam der
November: Die Kühe kamen in den Stall, und mein gemächliches Tagewerk
änderte sich gründlich. Ausmisten ging ja noch - es gab eine Dungbahn.
Aber täglich mussten Stroh und Heu von großen Mieten auf den Feldern heran
gefahren werden. Der Frost kam, die Wege wurden schwer passierbar. Die
Mieten froren von oben zu. Meine flotte Kleidung hing in Fetzen an mir
herunter. Die blanke Haut unter meinem Hemd fiel sogar den Russen auf. Ich
kaufte mir auf Ratenzahlung einen Watteanzug. Da traf es mich schon
wieder. Es gab eine Geldumwertung im Verhältnis von 1:10. Ich aber zahlte
schön den alten Preis ab. Den Watteanzug trug ich Tag und Nacht. Meine
Decke hatte man mir geklaut. Ich schlief unter einem Strohsack. Zum
regelmäßigen Waschen fehlte Wasser. So fanden sich bald die kleinen
Tierchen ein. Ihr Lieblingsplatz waren die Nähte in der Wattehose. Manchmal habe ich auch geheizt, mit Brettern, die ich in der Nacht irgendwo heruntergerissen hatte. In dem Winter wäre ich fast verzweifelt. Er war für mich noch schlimmer als der Winter 1946/47, weil ich allein war. Am Tag litt ich unter der für mich zu schweren Arbeit, nachts kam mit der Kälte die Verzweifelung. Kein Buch, keine Zeitung, kein Gespräch. Was machte ich im Dunklen? Laut sagte ich mir Erlerntes aus dem Gedächtnis auf: Gedichte, Liedertexte, Bibeltexte. Ich konjugierte "amare", das heißt "lieben", führte im Kopf geometrische Konstruktionen durch. So kämpfte ich gegen Hunger und Kälte an, wehrte mich mit meinem Schulwissen - dem Einzigen, was man mir nicht nehmen konnte - gegen den Sturz in das Dunkel. Doch auch dieser Winter ging vorbei. Ich hatte es wieder geschafft. Die Sonne stieg. Ich verdiente Geld. Es gab erste Lebensmittel frei zu kaufen. Und ich fuhr wieder meine Milch aus. Ja, und dann ging es schnell: "Siegfried, dawei. Nach Haus. Tempo, Tempo." Und ab ging es mit uns letzten Deutschen aus Ostpreußen hinaus. Insterburg, Königsberg, Polen. Langsam ratterte der Zug über die Oder. Unbekannte Grenzpfähle in schwarz-rot-gold sah ich neben den Gleisen. Ich kam in Deutschland an. Viele, zu viele hatten den Zug in diese neue, fremde Heimat nicht mehr erreicht. Wie würde sie mich aufnehmen?
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